"Wir sind jetzt in einer
Zeit der Ebbe." Und: "Drum schien mir die Geschichte wesentlich, um das
träge Pflanzenleben Deiner Gedanken aufzufrischen", schreibt
Karoline von Günderrode an ihre Freundin Bettina. "Sei mir ein
bisschen standhaft, trau mir, dass der Geschichtsboden für Deine
Phantasien, Deine Begriffe ganz geeignet, ja notwendig ist. - Wo willst
Du Dich selber fassen, wenn Du keinen Boden unter Dir hast!" (LuS 258)
Christa Wolf zitiert diese Briefstellen im Vorwort zu ihrer Sammlung
von Gedichten, Prosa und Briefen der Günderrode, die sie 1979
unter dem Titel "Der Schatten eines Traumes" herausgegeben hat.
"Sich selber fassen",
sich selber erkennen also, auf dem "Geschichtsboden" - das ist das Ziel
Christa Wolfs in ihrem Roman "Kindheitsmuster", in dem sie ihre eigenen
Erinnerungen an die Zeit des Faschismus, ihr - und unser -
unmittelbares "Kindheitsmuster", aufarbeitet. In "Kein Ort. Nirgends"
wie in der Herausgabe der Werke der Günderrode und der Bettina von
Arnim erinnert die Autorin die Situation der beiden Frauen und Kleists
zu Beginn des 19. Jahrhunderts. "'Kein Ort. Nirgends' habe ich 1977
geschrieben. Das war in einer Zeit, da ich mich selbst veranlasst sah,
die Voraussetzungen von Scheitern zu untersuchen, den Zusammenhang von
gesellschaftlicher Verzweiflung und Scheitern in der Literatur. Ich hab
damals stark mit dem Gefühl gelebt, mit dem Rücken an der
Wand zu stehn und keinen richtigen Schritt tun zu können." (Mat 67
f.) In dem Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau, in dem sich Christa
Wolf so äußert, weist sie auf die damalige kulturpolitische
Situation in der DDR nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hin.
"Das reine Zurückgeworfensein auf die Literatur brachte den
einzelnen in eine Krise; eine Krise, die existenziell war." "'Kein Ort.
Nirgends' zu schreiben, war dann 'Selbstverständigung', auch eine
Art von Selbstrettung, als mir der Boden unter den Füßen
weggezogen war." (Mat 68) Statt des gesellschaftlichen "Bodens unter
den Füßen" wird der "Geschichtsboden" gewählt, nicht
irgendein Ausschnitt daraus, sondern die Situation von Menschen, die
ebenfalls bodenlos existieren müssen, darum ihrerseits den
"Geschichtsboden" als Ort der Selbsterkenntnis entdecken und
dennoch zum Schluss an dem Ort ankommen, der "Kein Ort. Nirgends" ist.
Zwischen der in der französischen Revolution gipfelnden und mit
ihr untergehenden Utopie des 18. Jahrhunderts und dem heraufziehenden
Zeitalter der Industrialisierung und des "hemmungslosen Gewinntriebs"
(LuS 228) leben die Autoren der nachklassischen Generation in einer
"Zwischenzeit" (LuS 227), in der "die Utopie [...] vollständig
aufgezehrt, der Glaube verloren, jeglicher Rückhalt geschwunden"
ist (LuS 230), in der die Menschen sich am "Rand der Vernichtung" (Mat
81), des "Abgrunds" (Lu5 230) sehen. In den "Voraussetzungen einer
Erzählung" wird Christa Wolf dann von einer Zeit "zwischen zwei
Katastrophen" sprechen (V227).
Die Autorin hat nach
"Kein Ort. Nirgends" ihre "existenzielle" Krise überwunden. Der
Augenblick der Krise "ist jetzt vorüber", sagt sie und betont (in
dem Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau), "dass ich, indem ich mich
mit meinen Fragen immer tiefer in die Wunden der Zeit hineinbohre, die
auch meine Wunden sind, nicht vorhabe, aufzugeben" (Mat 77).
Und dann schreibt sie die
Erzählung "Kassandra" und die "Voraussetzungen einer
Erzählung: Kassandra", die sie als vier Frankfurter
Poetik-Vorlesungen vorgetragen hat. Hier wagt sie einen in
mehrfacher Hinsicht weiten sehr weiten Sprung, der an Orte weitab von
denen ihres bisherigen literarischen Materials führt:
- einen Sprung in die
historische Zeit der Frühgeschichte, über 3.000 Jahre
zurück, ja, sogar zurück bis in die Zeit der "Trennung des
Menschen vom Tierreich" (V 100)
- einen Sprung zurück in den Bereich der Mythologie, und das
bedeutet einmal
- einen Sprung in die bisher romantisch besetzte "Dämmerung des
Mythos" (V 12)
und zum anderen
- einen Sprung in den Bereich der hundertfach klassisch gestalteten
Figuren.
Die Frage drängt sich auf: Was motiviert Christa Wolf zu diesem in
mehrfacher Hinsicht exzeptionellen Sprung? In anderer Formulierung ist
das auch die Frage: Als was versteht sie ihre "Arbeit am Mythos"?
Vielleicht fällt
uns beim Lesen der Sprung in die antike Mythologie nicht besonders
schwer, vor allem weil wir schnell Parallelen erkennen: eine sich
zeitkritisch verstehende Schriftstellerin heute - die warnende Seherin
damals; die gewissermaßen staatlich angestellte Priesterin damals
- die ihr Schreiben als Beruf ausübende und offizielle Ämter
bekleidende Frau heute; der Trojanische Krieg damals – die Katastrophe
des in den 80er Jahren nach Christa Wolfs Überzeugung drohenden
nuklearen Holocaust. Für was stehen z.B.
Agamemnon und Priamos, für was "Achill, das Vieh"? Die Parallelen,
die offenen und die verdeckten, sind einem literarischen Verfahren zu
verdanken, das Christa Wolf in einem Redebeitrag zum PEN-Kongress 1977
nicht "Verfremdung", sondern "Verkleidung" genannt hat (LuS 106 ff.).
In diesem Sinne hat man gleich nach Erscheinen der "Kassandra" vom
parabolischen Charakter der Erzählung gesprochen, der die
Lektüre "atemberaubend, weil so einfach, zwingend" mache (F.J.
Raddatz, in: DIE ZEIT). Und das die "Verkleidung" rückgängig
machende, also "entkleidende" Lesen ergibt dann immer wieder neue
Überraschungen, wenn sich z.B. herausstellt, dass der trojanische
Sicherheitsoffizier Eumelos der personifizierte Staatssicherheitsdienst
ist, dass die Eltern der Kassandra den Staatsapparat einerseits
(Priamos, der Vater) und die Partei andererseits (Hekabe, die Mutter -
mit Fragezeichen!)
repräsentieren, dass die Dienerin Marpessa - mit anderen zusammen
- die arbeitende Klasse verkörpert, Arisbe, Kassandras
matriarchalische Alternativ-Mutter (Brechts Zweimütter-Motiv im
Hintergrund) die utopische Seite der Frauenbewegung - vielleicht ist
aber auch etwas von einem Anna-Seghers-Porträt in die Figur
eingegangen, wie Anchises, des Aineias Vater, wie gesagt wurde,
Blochsche Züge
trägt, während Penthesilea nach Christa Wolfs eigenen Worten
"die ausweglose Linie des Matriarchats" verkörpert, in der "an die
Stelle des Männlichkeitswahns" der "Weiblichkeitswahn" tritt (V
115).
Während der Arbeit
an ''Kassandra" hat Christa Wolf im Tagebuch-Teil der "Voraussetzungen"
angemerkt, dass ihr die Erzählung "immer mehr zu einer
Schlüsselerzählung" gerät (V 119). (Es wäre
interessant, ausführlicher auf diesen Gesichtspunkt einzugehen. )
Das Verfahren der
"Verkleidung", Verschlüsselung, Verrätselung, das
natürlich mit den Bedingungen des Schreibens in der damaligen DDR
zusammenhängt, lässt sich als die Umkehrung des
entmythologisierenden Vorgehens der aufklärerischen
Mythosinterpreten in der Schule Heynes beschreiben, die von dem "stilus
parabolicus" als Hauptmerkmal der "ratio mythica" und der "lingua
mythica" ausgingen und in der Subtraktion des mythologisch-parabolisch
Gesagten vom eigentlich Gemeinten die historische oder philosophische
Wahrheit des Mythos herauszuarbeiten versuchten. Christa Wolfs
umgekehrtes, also die analysierte politische Lage mythologisierendes
Vorgehen scheint so rationalistisch wie das dieser Mythologen des 18.
Jahrhunderts. Es entspricht einem aufklärerischen
wirkungsästhetischen Konzept, nach dem die Literatur heute,
"verkleidet von ihrem Wesen her, [...] auf Verkleidete [trifft], auf
'Wirklichkeit in Verkleidung', auf Leser, denen das Verhängnis
verborgen bleibt, womöglich als 'Glück' erscheint" (LuS 110),
so dass sich die grundlegende Frage ergibt: "Sollte Literatur der
Selbstmaskerade so vieler Menschen ihrerseits zu begegnen suchen, indem
sie sich immer weiter maskiert, unkenntlich macht, in Kostüme
flüchtet, mit Bildern, Gleichnissen, Mythen arbeitet? Sich 'in
Verkleidung' einschleicht hinter die Abwehrpanzerung ihrer Leser? Oder
sollte sie, im Gegenteil, der Codifizierung der Welt unverstellt
entgegentreten, nackt und bloß, auf die Strukturen weisen und in
dürren Worten sagen, was ist?" (LuS 111) Christa Wolf beantwortet
diese Entweder-Oder-Frage, indem sie in der "Kassandra"-Erzählung“
den ersten Weg beschreitet, den der Kostümierung bis zu einer
durch das frühgeschichtliche Material bedingten
(Un-)Kenntlichkeit, und indem sie in den vier unterschiedlichen Teilen
der "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra", den Frankfurter
Poetik-Vorlesungen, den anderen Weg wählt, den der möglichst
eindeutigen Benennung und Beschreibung der Katastrophe der Gegenwart.
Mit der genauen wechselseitigen Zuordnung der beiden Werke, ihrer
Integration zu einem Werk, dem "Kassandra-Projekt", geht Christa Wolf
formal über Thomas Manns Nacheinander des "Dr. Faustus" und der
"Entstehung des Dr. Faustus" hinaus, Die beiden Reiseberichte in
den "Voraussetzungen" (Berichte von einer Griechenland- bzw.
Kreta-Reise im Frühjahr 1980) weisen ihrerseits einen Wechsel von
"fiktionalen" und "nicht-fiktional"-reisebeschreibenden Teilen auf.
Insgesamt fällt der starke Anteil historisch-referierender und
-reflektierender Passagen in allen vier Teilen der "Voraussetzungen"
auf. Ich wende mich darum - zur Beantwortung der Frage, als was Christa
Wolf ihre "Arbeit am Mythos" versteht - zunächst vor allem diesen
explizit formulierenden, die Frage thematisierenden Teilen des
"Kassandra-Projekts“ zu. Wenn der Sprung in die "Dämmerung des
Mythos" unter historischem Aspekt betrachtet wird, geht es um das
Geschichtsbild der Autorin, um die Frage nach der Art der
Sonderstellung, die sie der mythischen Zeit im Ganzen der Geschichte
zuspricht.
Ich möchte
zunächst einige Begriffe klären, die grundlegend sind
für Christa Wolfs Geschichtsverständnis und - damit
unlösbar zusammenhängend - für ihre Analyse der
Gegenwart.
1. Schon immer ist
für Christa Wolf die Frage nach dem Anfang, "Wann hat es
angefangen?", die entscheidende Frage des Nach-Denkens, des Erinnerns
gewesen. "Gedächtnis. [...] Zu entwickeln wäre also die
Fähigkeit des Bewahrens, des Sich-Erinnerns. Vor deinem inneren
Auge erscheinen Geisterarme, die in einem trüben Nebel
herumtasten, zufällig. Du besitzt die Methode nicht, systematisch
durch alle Schichten durchzudringen bis zum Grund..." (Ki 15) Dazu
reichen die normalen Analysefähigkeiten nicht aus, vor allem, wenn
das "Hauptinteresse", wie Christa Wolf im Gespräch mit Frauke
Meyer-Gosau (noch im Hinblick auf "Kein Ort. Nirgends") sagt, der
Hauptfrage gilt: "wo hat sie eigentlich angefangen, diese entsetzliche
Gespaltenheit der Menschen und der Gesellschaft?" (Mat 69) - das
Gespaltensein in "männlich" - "weiblich", Leib - Seele, privates
Leben - politisches Leben, Freund - Feind, Außenseiter -
Dazugehöriger usw. (vgl. Mat 69, V 109 u. pass.) Die Beantwortung
der Frage nach dem Anfang, dem - bisher - unerforschbaren ''Grund"
dieser Trennungen und Schnitte im menschlichen Leben soll zur
Beantwortung der Frage nach dem Ende, nein: nach dessen Verhinderung
verhelfen: "Wann hat es angefangen? fragen wir uns. War dieser Verlauf
unausweichlich? Gab es Kreuz- und Wendepunkte, an denen die Menschheit,
will sagen: die europäische und nordamerikanische Menschheit,
Erfinder und Träger der technischen Zivilisation, andere
Entscheidungen hätten treffen können, deren Verlauf nicht
selbstzerstörerisch gewesen wäre? War denn, fragen wir uns,
mit der Erfindung der ersten Waffen - zur Jagd -, mit ihrer Anwendung
gegen um Nahrung rivalisierende Gruppen, mit dem Übergang
matriarchalisch strukturierter, wenig effektiver Gruppen zu
patriarchalischen, ökonomisch effektiveren, der Grund für die
weitere Entwicklung gelegt? Mit dem Überspringen von
Größenverhältnissen, die noch durch menschliche
Erfahrung erreichbar gewesen wären? Liegt in der Jagd nach
Produkten, immer mehr Produkten, die Wurzel der Destruktivität?
Hätte es, für unsere Länder, irgendeine Möglichkeit
gegeben, aus diesem Wettlauf auszusteigen, indem wir uns auf
andre Werte orientiert hätten?" (V 107 f.)
Die Frage nach dem Anfang geht also über ein historisches
Interesse sine ira et studio weit hinaus, sie meint: Wenn wir den
Anfang all dessen wüssten, was in den gegenwärtigen
katastrophalen Zustand geführt hat, wüssten wir - vielleicht
- auch den Weg wieder heraus. Sie bleibt eine historische Frage,
andererseits ist natürlich festzuhalten, dass die Frage nach dem
Anfang, einmal gestellt, eine Eigendynamik bekommt und sich irgendwann
in eine metaphysische Frage verwandeln kann.
2. Der erinnernden Suche
nach dem Anfang, dem Grund entspricht die Frage nach dem "Grundmuster".
Immer wieder trifft man bei Christa Wolf auf diesen Begriff, mehrfach
in den "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra". Er ist ein
historischer Begriff. Christa Wolfs "Muster" ("Verhaltensmuster",
"Denkmuster", "Erzählmuster", "Seh-Raster") sind immer geworden,
sie hatten einmal einen Anfang, sie sind also auch veränderlich.
3. Zum Charakter der
Muster als "Probestücke" (Ki), die sich nach Meinung der jeweils
Herrschenden bewährt haben, gehört auch, dass sie sich
ständig, möglicherweise durch Jahrhunderte oder gar
Jahrtausende, wiederholen. "Immer nur die Wiederkehr des Gleichen?"
fragt Kassandra Arisbe (K 141). "Wiederholt sich alles?" - heißt
es schon in "Kindheitsmuster". "Muss die Einsicht, wie man den
Kreislauf durchbrechen könnte, immer so spät kommen, dass der
Schaden angerichtet und man selbst zu alt ist für durchgreifende
Veränderungen?" (Ki 64) Das gilt im Blick auf lebensgeschichtliche
Kindheitsmuster, Muster also von einzelnen, aber auch im Blick auf die
ganze Menschheitsgeschichte. Im Kriegsbeginn-Kapitel des Romans
"Kindheitsmuster" beklagt Christa Wolf "diesen fatalen Hang der
Geschichte zu Wiederholungen" (Ki 159). (Im Ohr haben wir Büchners
Klage über den "grässlichen Fatalismus der Geschichte".) Seit
irgendwann kehrt in der Geschichte, jedenfalls in der
europäisch-nordamerikanischen, eine und dieselbe "Urszene"
ständig wieder. Das Grundmuster lässt sich auf den Begriff
bringen: Gespaltenheit, die zur Selbstzerstörung führt.
Soweit reicht die rationale Analyse. Auch das Ziel kann benannt werden:
"sichern zu helfen den Bestand des Irdischen" (LuS 332). Aber was hilft
all das, wenn der historische Punkt der "Urszene", des Anfangs,
vergessen bleibt; "du besitzt die Methode nicht, durchzudringen bis zum
Grund".
4. Von der gelingenden
historischen Erinnerungsarbeit hängt ab, ob "lebbare Alternativen"
- auch dies ein bei Christa Wolf häufiger Begriff - gefunden
werden können (LuS 320/329, V 97). Eine "lebbare Alternative" kann
nicht dasselbe wie eine Utopie sein; der Schritt zurück hinter die
Situation von "Kein Ort. Nirgends", hinter die absolute U-Topie, die
Ort-Losigkeit, Un-Lebbarkeit des Utopischen ist nicht mehr
möglich. Eine "lebbare Alternative" muss andererseits mehr sein
als ein Wunsch, z.B. der "unbändige Wunsch, meine Kinder und Enkel
leben zu lassen" (V 88). Was sind aber dann die "lebbaren
Alternativen"? Mit welcher Methode sind sie zu finden? Wo liegt ihr
Anfang, ja, haben sie schon jemals angefangen?
5. Mag sich die Situation
für Christa Wolf als Schriftstellerin in ihrem Staat seit 1977
entschärft haben, mag auch ihre damit verbundene "existenzielle
Krise" "vorbei" sein - die politische und lebensweltliche
Gesamtsituation, in der wir leben, hat sich für sie zu Beginn der
80er Jahre durch die Fortsetzung des Wettrüstens, die steigende
Gefahr der nuklearen Vernichtung, die allgemeine Handlungslähmung
zugespitzt. Zu dieser Situation gehört wesentlich ein Vorgang, den
sie als die Zunahme "falscher Alternativen" bezeichnet. Geschichte
wäre eigentlich für die sozialistische Schriftstellerin immer
noch ein dialektischer Prozess, der prinzipiell - entgegen dem
Geschichtsverständnis einer ständigen periodischen Wiederkehr
des Gleichen - Fortschritt ermöglichte, und zwar durch den
''Produktiven Widerspruch" zwischen zwei oder mehreren gleichzeitigen
"lebbaren Alternativen" (Mat 72). Der Widerspruch, die "Antinomie"
wäre "nicht zerbrechend oder tödlich, wenn es sich um
Widersprüche handelt, die sich gegenseitig zu Lösungen
treiben" (aaO). Aber die heute gleichzeitig existierenden
"Lebensalternativen" können nicht mehr zu Lösungen
führen.
Das zeigt sich für Christa Wolf am Beispiel der Menschen, die - in
der Rüstungsindustrie oder als Soldaten - "mit Waffen zu tun
haben": Im Tagebuch-Teil der "Voraussetzungen" sagt sie: "Wenn keiner,
der mit Waffen zu tun hat, mehr den Finger rührte? Dann
würden sie alle arbeitslos. Na und? denkt man. Besser arbeitslos
als tot. Aber so denken die nicht, denn sie fürchten mehr den
sicheren gesellschaftlichen Tod als den unsicheren physischen. Dies
nenne ich: falsche Alternativen. Ihre Zahl nimmt zu." (V 121)
Die - absehbare -
Steigerung dieses Zustandes ist die völlige "Alternativlosigkeit";
d.h. produktive Entwicklung, "Fortschritt" (V 101) findet
überhaupt nicht mehr statt. Der geschichtliche Prozess ist an sein
Ende gelangt.
6. "Über
Realität", schreibt Christa Wolf in den "Voraussetzungen": "So,
als gebe es ein jedes Land zweimal. Als gebe es jeden Bewohner zweimal:
einmal als ihn selbst und als mögliches Subjekt einer
künstlerischen Darstellung; zweitens als Objekt der Statistik, der
Publizistik, der Agitation, der Werbung, der politischen Propaganda. -
Das Objektmachen: Ist es nicht die Hauptquelle von Gewalt? Die
Fetischisierung lebendig-widersprüchlicher Menschen und Prozesse
in den öffentlichen Verlautbarungen, bis sie zu Fertigteilen und
Kulissen erstarrt sind: selbst tot, andre erschlagend." (V 114)
Christa Wolf entwirft
hier das Bild des gespaltenen, doppelten Menschen, für den es nur
ein Entweder-Oder gibt und der, dem "hierarchisch-männlichen
Realitätsprinzip" (V 112) entsprechend, andere Instanzen in sich,
andere Bereiche in der Außenwelt verleugnet, verdrängt,
unterdrückt, der also auch kein Bewusstsein seiner eigenen
Gespaltenheit entwickeln kann. Vor allem aber ist er in einem
"Wahndenken" (U 87) befangen, dem Wahn nämlich, Rationalität
heiße wie "Objektmachen", so auch "Subjektsein", während
doch die in "jedem Land" aufgebaute Welt der Waren, Apparate und
Maschinen den Menschen nur noch als Objekt zulässt, fremdbestimmt.
Die Alternative wäre: "jeder" "als er selbst", als "Subjekt" als
"lebendig-widersprüchliche" Einheit des Geschiedenen, als - wie
Kassandra sagt - "das Dritte, das es nach ihrer [der "Griechen", der
Rationalisten aller Länder] Meinung überhaupt nicht gibt, das
lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich
selbst hervorzubringen [das also autonom ist], das Ungetrennte, Geist
im Leben, Leben im Geist" (K 121 f.).
Kassandras "Griechen".
deren heutige Nachfahren - "ihre Götter sind unsre Götter,
die falschen", sagt Christa Wolf (V 95) - benötigen, um die
gespaltene, todbedrohte Welt zusammenzuhalten, "Mythen", "in dem Sinn,
den das Wort inzwischen angenommen hat: im Sinne falschen Bewusstseins"
(V 104). Diese modernen Mythen sind allesamt "Lebensabwehrmythen"
(V 87). Die Autorin nennt und beschreibt in diesem Zusammenhang den
Mythos der Sicherheit, den "Mythos" nämlich, dass wir in einem
zukunftsträchtigen Frieden leben" (V 104) - während doch
gerade die Existenz der Sicherheitssysteme die Katastrophe
herbeiführt -, den Mythos der (falsch verstandenen)
Wissenschaftlichkeit (V 87), den "Mythos der Maschine" (V 119), den des
machbaren "Fortschritts" (LuS 324). Im Verblendungszusammenhang dieser
"Lebensabwehrmythen", in ihrem öffentlichen und psychischen
Funktionieren als "Abwehrpanzerung" liegt der letzte Grund für die
"Alternativlosigkeit".
Ich nehme die
Anfangsfrage wieder auf: Was motiviert Christa Wolf zu dem
exzeptionellen Sprung in die "Dämmerung des Mythos"? Wie versteht
sie ihre Arbeit am Mythos?
Im dritten, dem Tagebuch-Teil der "Voraussetzungen einer
Erzählung: Kassandra" bekennt die Autorin, ''dass die
Älteren, Abgeklärten meiner Generation schon lange erkannt
haben: Es gibt keinen Spielraum für Veränderung." (V 95 f.)
Das ist mehr als nur der Verlust der Utopie, das ist der Verlust der
Realität. ''Sich den wahren Zustand der Welt vor Augen zu halten,
ist psychisch unerträglich. In rasender Eile, die etwa der
Geschwindigkeit der Raketenproduktion beider Seiten entspricht,
verfällt die Schreibmotivation, jede Hoffnung, 'etwas zu
bewirken'. [...] Der Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle." (V 97) Und
in der während der Arbeit an "Kassandra" geschriebenen und
gehaltenen Büchner-Preis-Rede sagt sie: "Da klopft, besonders
nachts, doch wieder laut, sehr laut, der alte Takt [der alte
"existenzielle" Takt von 1977, der der Takt Rosettas aus Büchners
"Leonce und Lena" ist und der auch Kassandras Takt wird, wenn sie sich
"am Ende" weiß, der Takt nämlich]: Meine Füße
gingen lieber aus der Zeit." (LuS 329)
Aber keine Form der
Flucht kommt für Christa Wolf in Frage: weder die, "aus der Zeit
zu gehen", noch die Flucht in Lethargie, weder die - in Gedanken
durchgespielte - Flucht nach Australien noch - wie zeitweise bei
Kassandra - die Flucht in so etwas wie "Wahnsinn" (s. u.). Kassandra
bannt die Gesamtsituation stellvertretend in drei Sätze: "Für
alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die
Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre
Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur
diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden." (K 17) (Zur
Zeitangabe "heute noch" ist auf die Radiomeldung vom 26.4.1981
hinzuweisen, die die Autorin im Tagebuch-Teil der "Voraussetzungen"
wiedergibt, die "Meldung, die meinen Blick verändert", dass
nämlich nach dem Urteil von Friedensforschern "Europa [...], wenn
es nicht damit beginne, eine vollkommen neue Politik zu betreiben, noch
eine Gnadenfrist von drei, vier Jahren" habe; V 106.)
Kassandras Situation vor
dem Löwentor von Mykene, das Warten auf Klytaimnestras Schergen.
Christa Wolfs Situation in den 80er Jahren: in einer
tödlich sicheren, "düstren Festung" eingeschlossen,
eingekerkert, nach allen Seiten mit dem Rücken zur Wand, zur
Bewegungslosigkeit verdammt. Nur ein Weg heraus: durch das "Tor des
Hades" (V 18) als Opfer. Eine wahrhaft klaustrophobische Erfahrung,
und, natürlich, eine radikal endzeitliche: Einmaligkeit der
Situation als absolute Erstmaligkeit und absolute Letztmaligkeit. Die
einzige Möglichkeit standzuhalten besteht im Gebrauch der
Vergangenheitssprache, der Erinnerung, des Erzählens - in einem
solchen "Weg nach innen". Auf diesem Weg entspricht der Radikalisierung
der Ausweglosigkeits-Erfahrung die Radikalisierung, das
Bis-an-die-Wurzel-Gehen der Erinnerung. "Flucht zurück", sagt
Christa Wolf nun doch (V 72). "Mir ist bewusst, dass mein
Rückgriff in eine weit, ur-weit zurückliegende Vergangenheit
(der beinahe schon wieder zum Vor-Griff wird), auch ein Mittel gegen
diese unauflösbare Trauer ist..."(V 72).
An diesen Satz
schließen sich drei Fragenkomplexe an:
1. Wenn die Trauer
"unauflösbar" ist (weil ihre Ursachen nicht zu beseitigen sind),
wie kann das in der Vergangenheit liegende Mittel gegen die
Trauer gleichzeitig "beinahe schon wieder" Vorgriff-Charakter, also
doch wohl irgendeinen Hoffnungscharakter bekommen?
2. Welcher Methode kann
sich die Erinnernde bedienen, "durchzudringen bis zum Grund", zur
Wurzel? Die historische Methode wird sich als unübergehbar, aber
auch - wenn es um den "Grund" und nicht nur um irgendwelche "Kreuz- und
Wendepunkte" in der Geschichte geht - als unzureichend herausstellen.
3. Unterscheidet sich
Christa Wolfs Weg überhaupt von dem Weg der Romantiker in die
idealisierte, letztlich paradiesische "Urgeschichte" und zu dem
Katastrophenpunkt eines Sündenfalls, mit dem dann die eigentliche
Menschheitsgeschichte begonnen hat?
Ich beginne mit der
letzten Frage:
Christa Wolf kennt die
Romantik genau, vor allem aus ihrer Beschäftigung mit Karoline von
Günderrode und Bettina von Arnim und deren Umfeld. Ich gehe davon
aus, dass es dieses Vorbild - aus der vergleichbaren Situation heraus -
ist, das sie in die "Dämmerung des Mythos" gezogen hat. In dem
Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau charakterisiert sie die
Frühromantiker als "kleine progressive Gruppe", als eine "Gruppe
von Leuten", "die wenigstens mal versucht hat, bis an ihre Grenzen zu
gehen" (Mat 73). An der romantischen "Hinwendung zur Mythologie" (LuS
240) interessiert Christa Wolf weniger der frühromantische Ruf
nach einer neuen Mythologie, die eine "'Mythologie der Vernunft"' sein
sollte (LuS 240). Sie weiß genau: "Das ist [...] die Illusion von
Idealisten, die sich die Umwälzung der Verhältnisse von den
Ideen erwarten" (aaO). Das Mythosverständnis der Romantiker liegt
ihr dort näher, wo sie einen "Rückgriff auf Kräfte, die
dem 'Mutterschoß' entspringen und nicht, wie Pallas Athene, dem
Vaterkopf", erkennt, eine "Hinwendung zu [...] teils archaischen, teils
matriarchalischen Mustern". Der von ihr als "Eurozentrismus"
charakterisierte Akzent der vorromantischen Mythosforschung ist durch
die romantische Beschäftigung mit der "Vorgeschichte" und den
"Lehren Indiens, Asiens, des Orients" durchbrochen; da geht es dann um
"unbewusste Kräfte, die in Trieben, Wünschen, Träumen
Ausdruck suchen". "So weitet sich unendlich [urteilt die Autorin] der
Erlebniskreis und der Kreis dessen, was als Realität erfahren
wird." (LuS 258)
Diesen Weg der Romantik
verfolgt Christa Wolf weiter. Die Stichworte sind: matriarchalisches
"Muster", Unbewusstes, alternatives Realitätsverständnis. Das
sind, z. T., auch Stichworte der heutigen Frauenbewegung.
Romantikerinnen damals und einige Frauen der Frauenbewegungen sprechen
für Christa Wolf die Art von "Vergangenheitssprache", die ihr als
einzige in der "Festung" der Gegenwart, an dem Ort vor dem "Tor des
Hades", noch bleibt. In den "Voraussetzungen einer Erzählung:
Kassandra" heißt es dazu: "Feministinnen, in der Frauenbewegung
engagierte Frauen sahen in den Königreichen der Minoer die
Gemeinwesen, an die ihr sehnsüchtiges, utopisches Denken, durch
Gegenwartserfahrung und Zukunftsangst in die Enge getrieben, als an ein
Konkretum anknüpfen konnte. Es gab es doch einmal, das Land, in
dem die Frauen frei und den Männern gleichgestellt waren. In dem
sie die Göttinnen stellten..." usw. (V 61). Fast wie Sue und
Helen, zwei amerikanische Feministinnen, die Christa Wolf auf ihrer
Reise nach Kreta kennenlernt und die mit "Feuereifer" und "beinah
zärtlicher Anteilnahme" (V 57) die Spuren aus der Zeit minoischer
bis neolithischer matriarchalischer Gesellschaften aufsuchen, wird auch
die DDR-Schriftstellerin selbst von einem "Dauerfieber", dem von ihr so
genannten "Kreta- und Troja-Syndrom", befallen (V 59).
"'Zurück zur Natur'
also, oder, was manchen für das gleiche gilt, zu frühen
Menschheitszuständen? Liebe A., [schreibt Christa Wolf in dem
Brief, der die vierte Poetik-Vorlesung der "Voraussetzungen" ausmacht]
das können wir nicht wollen." (V 145) Zwar ist es "des Nachdenkens
wert, warum Frauen von heute aus dieser Tatsache [der matriarchalisch
bestimmten Frühgeschichte] einen Teil ihres Selbstbewusstseins und
eine Rechtfertigung ihrer Ansprüche ziehen müssen" (V 56),
nämlich weil sie sich in einer "verzweifelten Lage" sehen, aber
die entscheidende Frage ist: "Was hilft es uns zu wissen, dass die
alten Griechen allmählich 'Mutterrecht" durch 'Vaterrecht'
ersetzten; was beweist die anscheinend verbürgte Tatsache, dass
den frühen, Ackerbau treibenden Clans Frauen vorgestanden haben
[...] ?" (V 56) Historisches Wissen ist für die Autorin nicht in
der Lage, die heutige oder zukünftige Lebbarkeit einer Alternative
zu "beweisen"; insoweit "hilft" das Wissen auch nichts. Darüber
hinaus ist der Versuch einer solchen Beweisführung in sich
widersprüchlich, da hier mit den Mitteln der Wissenschaft, die
Christa Wolf dem "Vaterkopf" zuordnet, der naturgegebene, zumindest
zeitliche Vor-Rang des "Mutterschoßes" legitimiert werden soll.
Und schließlich sehen Leute wie Sue und Helen und zeitweise auch
die Touristin Christa Wolf, wie sie selber bekennt, nur das, was sie
sehen wollen (V 61).
Also: "Kein Grund zu
einer ähnlichen Idealisierung, wie sie unsere Klassiker mit dem
klassischen Altertum vornahmen" (V60) und - so lässt sich
fortfahren - wie es andere, Romantiker vor 180 Jahren und Frauen heute,
mit der Überlieferung der Frühgeschichte versucht haben. Eine
neue Utopie ist nicht zu gewinnen. Christa Wolf sähe sonst die
Gefahr eines Irrationalismus im Dienste der Restauration (V 101).
So hält sie dem
anti-aufklärerisch (also falsch) verstandenen Ruf
"Zurück zur Natur" die klassische Aufforderung Apollons entgegen
"Erkenne dich selbst" (V 145). Sie betont, dass "wir uns" mit diesem
Imperativ "identifizieren". Nur dem - nach klassischem und heutigem
Verständnis - männlich-rationalistischen Gott schlechthin,
nicht aber irgendeiner "Göttin einer undifferenzierten Epoche
hätte dieser Satz einfallen können - [...] nur dass diesem
Gott der edlen Geistesfreiheit, der von seiner Definition her mit der
Erde nicht in Berührung kommt, die Selbsterkenntnis, nach der er
strebt, verwehrt bleiben muss" (V 145).
In ihrem Umgang mit der
mythologischen Gestalt Apollon zeigt sich exemplarisch, wie Christa
Wolf ihre Arbeit am Mythos versteht. Da gibt es Apollon, den Gott der
Aufklärung, "mit dem wir uns identifizieren", der nicht zu
übergehen, nicht zu überspringen ist. Christa Wolf bleibt als
"gelernte" Marxistin in der Tradition, auf dem "Geschichtsboden" der
Aufklärung. Da gibt es aber noch den anderen, ursprünglichen
Apollon, wie die religionsgeschichtliche Forschung herausgefunden hat,
als einen Gott, der sich "aus den matriarchalischen Artemiskulten
Kleinasiens allmählich herausentwickelt" und "sich im Zuge der
Patriarchalisierung auch der Kulte, auch der Mythen bemächtigt"
hat (V 142). Christa Wolf hat das Wissen um den "'dunklen' Untergrund
und Hintergrund des 'Lichtgotts"' wohl nicht erst dem Brief Karl
Kerenyis entnommen, in dem dieser dem mit dem Josefsroman
beschäftigten Thomas Mann "die Idee vom 'wölfischen', vom
'dunklen' Apollon" mitteilt (V 99); die Idee wird aber für sie,
für ihre Kassandra-Figur, wie für den Autor des Josefsromans
entscheidend. Apollon als Usurpator-Gott fordert Selbsterkenntnis; der
Gott der Aufklärung richtet die Aufforderung an sich selber - das
heißt: Der Lichtgott entmythologisiert seinen Mythos selber (bzw.
das, was er aus den alten matriarchalischen Mythen gemacht hat),
genauer, er ent-heroisiert, ent-patriarchalisiert sich und seinen
Mythos, Die Aufklärung klärt ihre eigene Geschichte als eine
Geschichte des Kampfs um die Alleinherrschaft und der
Unterdrückung auf.
Es fragt sich dann nur,
ob Apollon auch in diesem Unternehmen der Selbstaufklärung noch
der alte bleibt, dem die Selbstkritik zu einer anderen Art der
Selbstbestätigung gerät, oder ob er soweit gehen kann und
"das Andere der Vernunft" - wie die heutige philosophische
Anthropologie das Ensemble von Natur, Leib, Phantasie, Begehren,
Gefühlen, Unbewusstem nennt (H. und G. Böhme) - als
gleichursprünglich anerkennt, ohne es zu vereinnahmen.
Aber wie kann er dorthin
kommen? Wie kann Christa Wolf dorthin gelangen, wenn sie sich
nach wie vor zur Tradition der Aufklärung und damit zur Aufgabe
der Selbsterkenntnis und deren Fundierung auf dem "Geschichtsboden"
bekennt? Historisches Wissen vom einen wie vom andren, vom "dunklen"
wie vom "hellen" Apollon bleibt einseitig "apollinisch", "hell",
führt nicht zu einer Selbsterkenntnis, die mit den
Füßen auf dem Boden, dem Geschichts- und dem Erdboden,
steht.
Ich greife an dieser
Stelle den zweiten der genannten drei Fragenkomplexe auf: Welche
"Methode" öffnet den Weg zum "Grund"? In den historisch-kritisch
darstellenden und reflektierenden, ent-heroisierenden,
re-matriarchalisierenden Passagen der Reiseberichte, des Tagebuchs und
des Briefs in den "Voraussetzungen einer Erzählung" sehen wir die
Autorin auf dem Weg Apollons, auf seinem Rückweg zu sich selbst.
Mit dieser Methode hat sie aber nicht begonnen, mit einer anderen
Methode ist sie bei sich selbst "angekommen". Davon erzählt sie
gleich zu Beginn des ersten Reiseberichts:
"Unbewusst, was ich
suchte, und nur, weil es sündhaft gewesen wäre, diese
Gelegenheit zu versäumen, wollte ich also nach Griechenland.
Schrieb 'Tourismus' als Reisegrund in die Formulare, verschwieg
jedermann, auch mir selbst, dass ich ihrem Rücklauf und ihrer
Verwandlung in gültige Visa - ein durchschaubarer Vorgang - mit
Seelenruhe entgegensah, habe Vorfreude mehr vorgetäuscht als
empfunden und mich überhaupt in ironischer Verfassung gehalten
(...'das Land der Griechen mit der Seele suchend...'); habe mich unter
dem Vorwand, Eindrücke unvermittelt genießen zu wollen, nur
schwach mit Kenntnissen ausgerüstet und mich dann nicht sehr
über meinen Lachanfall gewundert, als wir durch ein Versehen der
Fluggesellschaft die uns bestimmte Maschine nach Athen verpassten."
Dieser erste Absatz des
Reiseberichts gibt sich locker, selbstironisch, aber er "hat es in
sich". "Unbewusst", eigentlich grund- und
absichtslos, also entspannt; wie es dann heißt, "mit Seelenruhe";
mit nicht sehr ernst genommenem Einsatz der Rationalität,
nämlich mit mehr oder weniger vorgetäuschter Vorfreude und
unter einem Vorwand; dazu noch "schwach mit Kenntnissen
ausgerüstet" - und das in einer Welt des "Tourismus" - also der
Warenwelt; der "Formulare" und "Visa" und "Fluggesellschaften" - also
der Welt der Bürokratie und Apparate; der Flugzeuge ("Maschine")
und ihres Funktionierens - also der Welt der Maschinen. Insgesamt:
Offensichtlich eine Zeitgenossin, die sich gegenüber den drei
Göttern der modernen Industriegesellschaft ebenso wie
gegenüber den drei Göttern der gültigen geistigen Welt,
dem Bewusstsein, der begründenden Ratio, dem Wissen, besonders
ungläubig verhält, aber immerhin mitspielt.
Wir Leser merken: Das ist
ein Text, der die Schwebe hält zwischen Reisebericht und Fiktion,
der nicht nur die Agierenden zeigt, sondern sie transparent macht auf
die mitspielenden Götter hin, Götter der Innenwelt,
Götter der Außenwelt. Nachdem die Erzählerin
offensichtlich Gegen-Göttern huldigt - dem Unbewussten, der
Grundlosigkeit, der Spontaneität -, tritt auch in der
Außenwelt seit dem "Versehen der Fluggesellschaft", seit dieser
Reiseverschiebung um die ''Zwischenzeit" eines "geschenkten Tags" (V
10) ein Gegen-Gott in Aktion, ein Gegen-Gott zu den drei genannten
Göttern der Industriegesellschaft: Es ist der "Zufall", der nach
einigen Buchseiten mit seinem griechischen und mythologischen Namen
genannt wird: "Tyche" (V 12). "Nicht das Gesetz, der Zufall würde
unsere Reise regieren, ein selbstherrlicher Herrscher, unberechenbar,
schwer zu durchschauen, kaum zu überlisten, nicht zu kommandieren.
[...] Die Klammern des Unabwendbaren lockerten sich. [...] Moira, das
Schicksal, suchte uns vergebens in der Maschine, die soeben in Athen
landete." (V 9) "Moira" ist der Name für die Gottheit der
geltenden Ordnung (des "Gesetzes"), der Berechnung und
Vorausberechnung, des Kommandos - also der Hierarchie und der darauf
begründeten Herrschaft, der List - also der Lüge im Dienste
des Ganzen. Das Wirken dieser Götter scheint außer Kraft
gesetzt. Der inneren Lockerheit und "Gelassenheit" (V 72),
Bewusst- Grund- und Absichtslosigkeit kommt aus der Außenwelt
eine Gottheit entgegen, die ebenfalls gelassen und unverkrampft-ziellos
wirkt, dabei jedoch "selbstherrlich", also autonom ist; außerdem
ist sie - wie es sich in den vier Charakterisierungen ''un-'', "kaum",
"schwer", "nicht" ausdrückt - ein Geist, der verneint, eine
Gottheit des Widerstands.
Gelassenheit von innen
und Tyche von außen öffnen den Weg in das "Zeitenloch" (K
141) des "geschenkten Tags": "Am nächsten Vormittag, in der leeren
Wohnung, in die kein Anruf, kein Brief sich verirrte [die also von
Moira-Resten frei war], begann ich [schreibt Christa Wolf] die
'Orestie' des Aischylos zu lesen. Ich konnte mir noch zusehen, wie ein
panisches Entzücken sich ausbreitete, wie es anstieg und seinen
Höhepunkt erreichte, als eine Stimme einsetzte: 'Oh! Oh! Ach! /
Apollon! Apollon!' Kassandra. Ich sah sie gleich. Sie, die Gefangene,
nahm mich gefangen, sie, selbst Objekt fremder Zwecke, besetzte mich.
[...] Der Zauber wirkte sofort. [...] So bewährte sich die
Sehergabe, die ihr der Gott verlieh, nur schwand sein Richtspruch, dass
ihr niemand glauben werde." (V 10)
Christa Wolf stellt zu
Begin der dritten Poetik-Vorlesung (des Tagebuchs) fest, dass es "nicht
das Ende ist, das mich an Kassandra am meisten interessiert. Mich
interessiert: wie ist sie an die Sehergabe gekommen?" (V 5) An der
zitierten Stelle zu Beginn der ersten Vorlesung schildert sie, wie sie
selber (als Erzählerin) an ihre Sehergabe kommt: Dadurch, dass
Kassandra sie - die Erzählerin - sieht, kann sie - die
Erzählerin - Kassandra sehen. Es wird deutlich: Das ist die
Beschreibung einer mystischen Erfahrung, die da einsetzt, wo die
Fähigkeit des in sich gespaltenen Menschen, sich selbst zuzusehen,
aussetzt. Es ist die Rede von einem "Zauber", davon, dass die
Erzählerin "in den Bannkreis eines Blicks gebracht" wird (V 12).
Die Formulierung "panisches Entzücken" evoziert die Vorstellung
eines mysterium tremendum ("panisch") und zugleich eines mysterium
fascinosum ("Entzücken"). "Dreitausend Jahre - weggeschmolzen." (V
10) Und Apollon - wohl nicht der "helle" - ist der Mittler.
Da ist also jemand im 20.
Jahrhundert, der/die sich selber erkennen will, gelassen
die Lockerung der Herrschaft der apollinischen Rationalität in
sich und außer sich erlebt und schließlich - nicht in einem
irrationalen Dunkel ankommt, sondern im Licht, bei sich selbst in
Gestalt einer anderen. Die andere, Kassandra, die - wie es an der
zitierten Stelle heißt - "sich selber kannte", kann auch
diejenige, die in den "Bannkreis ihres Blicks" gerät, erkennen.
Wie (in der Erzählung) Kassandra in einem Traumgesicht auf
magisch-mystische Weise durch Apollon die Sehergabe verliehen bekommt,
so hier die Erzählerin "im Nu" einer "Anverwandlung" (Mat 7)
über drei Jahrtausende hinweg.
Christa Wolfs "Gang zu
den Müttern" - sie zitiert in der vierten Vorlesung
ausführlich "Faust II" - bleibt trotz des mystischen Einstiegs
historisch-aufklärerisch. Die "aus dem Mythos in die (gedachten)
sozialen und historischen Koordinaten" "rückgeführte"
Kassandra (V 111) ist dann keine andere als die des mystischen
Erlebens. "Wer war Kassandra, ehe man von ihr schrieb?" "Die Figur
verändert sich andauernd, indem ich mich mit Material befasse;
immer mehr schwindet der tierische Ernst, alles Heroische, Tragische,
demzufolge schwinden auch Mitleid und einseitige Parteinahme für
sie." (V 119) Mitleid und Furcht sind die falschen Kategorien der
(literaturgeschichtlich geschulten) Historikerin gewesen. Der
Historiker heute, ausgestattet mit dem Wissen "von Ausgrabungsfunden,
Feldforschung, von den Zeit-Schichtungen der griechischen Mythologie,
von ihren lokalen Ausprägungen" (V 137), hat gelernt zu
entheroisieren. Und so kann Kassandra - wenn es sie gegeben hat -
gelten als "Tochter eines Königshauses, in dem die patrilineare
Erbfolge gefestigt scheint", in dem aber auch "die alten
matriarchalischen Kulte neben den jungen Kulten der neuen Götter
gepflegt werden mögen" (V 144). "Dies würde Kassandra in die
Lage versetzen, sich von einer nicht mehr gültigen Utopie trennen
zu müssen und keinen realen Lebens-Ort zu finden." (V 104) Diese
Ort-Losigkeit ist aber der einzig mögliche historische Ort
für "Selbsterkenntnis, Distanz, Nüchternheit [...] bei
innigster Betroffenheit" (V 13) - Selbsterkenntnis, die - unheroisch -
auf dem Boden bleibt.
Die gleiche Koinzidenz
des mystischen und des historischen Wegs zeigt sich bei der Figur des
Gottes Apollon, dem Kassandra ihre Sehergabe verdankt. Hinter dem
Lichtgott Apollon taucht der andere, Apollon Lykeios, auf, "des
Sonnengotts [frühere] Wolfsgestalt" (K 19); in noch weiter
zurückliegenden Schichten wird eine zwillingsgeschwisterliche
Beziehung zu Artemis sichtbar, und diese Zwillinge haben eine enge
Beziehung zur Magna-Mater-Gottheit Gaia gehabt, die in "Kassandra"
Kybele heißt; diese bildet ihrerseits mit der dreigestaltigen
Mondgottheit eine Einheit, und die Namen der Geschwister Kassandra und
Helenos sind eigentlich nur andere Namen für Artemis und Apollon
usw. usw. Entscheidend im gegenwärtigen Zusammenhang ist das
historisch belegbare Wissen, dass diese ganze Reihe auf "ein Sehertum"
hinführt, "das einst in enger Beziehung zur Mondgottheit stand und
nicht im Dienst des Licht- und Sonnengotts Apoll" (V 134), und dass
sein Inhalt dadurch bestimmt ist, dass es von der Urmutter Gaia als
"Schlangengöttin" stammt, die als "die sich Häutende" "ewiges
Leben" zu bieten hat (V 100), wie Kassandra es definiert, "das
lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich
selbst hervorzubringen" (K 121). Das Miteinander von Erd- und
Mondgöttin, diesen "Müttern", wird von Kassandra durch den
Satz übersetzt. "Wer lebt, wird sehn." (K 41)
Das Ineinanderspielen der
verschiedenen Gottheiten stimmt also mit dem historischen
Forschungsstand überein. Aber an der zitierten Stelle ihres
Reiseberichts schildert Christa Wolf, wie der Weg historischen
Forschens nahtlos übergeht in einen mystischen Weg und wie dieser
Weg im Erleben genau an dem Punkt "ankommt", der historisch beschrieben
worden ist: bei dem anderen Licht, alternativ zum
rational-"reflektierten", ausschließliche Geltung
beanspruchenden, "blendenden" Sonnenlicht, bei dem Mond- und Traumlicht
und einem entsprechenden Sehen - Christa Wolf bezeichnet es einmal als
"mein sprechendes Schlafbewusstsein" (V 46).
Wie ist es möglich,
die Sehergabe verliehen zu bekommen? Tyche muss mitspielen, aber in uns
haben wir "jene Stelle", "aus der Schmerz, Liebe, Leben, Träume
kommen können" (K 129). Immer wieder sind wir gezwungen, wie
Kassandra, "mit meinem Körper jene Stelle abzudecken, durch die,
für mich nur spürbar, andre Wirklichkeiten in unsre Welt der
festen Körper einsickerten. Die die fünf Sinne, auf die wir
uns verständigt heben, nicht erfassen, weshalb wir sie verleugnen
müssen." (K 121) In der Begegnung mit Kassandra hat die
Erzählerin von Christa Wolfs Reisebericht die "Abdeckung"
gelockert und eine Erfahrung gemacht, die ihre fünf Sinne
übersteigt.
"Panisches
Entzücken": Offensichtlich "Entzücken", Christa Wolf spricht
auch von "Wiedererkennungsschrecken" und "freudigem Schrecken" (V 57),
von einer "Strahlung" als einem "mythischen, 'ungeheuren' Element
[...], einem rational kaum fassbaren" (V 137), von der historischen
Erfahrung der "Gefilde der Glücklichen", die "nicht entzaubert"
werden "durch eine nähere Kenntnis der Verhältnisse, die sie
hervorbrachten" (V 57). Das in der historisch-mystischen Begegnung
zwischen der Schriftstellerin der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und
der 3 000 Jahre
'jüngeren' trojanischen Seherin erprobte Programm heißt
dann: "den Mythos lesen lernen". "Den Mythos lesen lernen ist ein
Abenteuer eigner Art; eine allmähliche eigne Verwandlung setzt
diese Kunst voraus, eine Bereitschaft, der scheinbar leichten
Verknüpfung von phantastischen Tatsachen, von dem Bedürfnis
der jeweiligen Gruppe angepassten Überlieferungen, Wünschen
und Hoffnungen, Erfahrungen und Techniken der Magie - kurz, einem
anderen Inhalt des Begriffs 'Wirklichkeit' sich hinzugeben" (V 57).
Nach "panischem
Entzücken", nach "mysterium tremendum", hört sich das nicht
an. Und so greife ich die erste der drei genannten Fragen wieder auf:
Ist Christa Wolfs Gang zu den Müttern nicht doch wieder einseitig
utopisch? Denn es stellt sich die Frage: Was - über die Einsicht
hinaus, dass es verschüttete Erkenntnisquellen im Menschen und
entsprechende 'phantastische' Wirklichkeitsbereiche außen gibt,
und über das "Gefühl" hinaus, dass es damals, "im Grunde, die
gleichen Menschen waren wie wir es sind" (V 58) - was darüber
hinaus ist der inhaltliche Ertrag der Selbsterkenntnis auf dem
"Geschichtsboden", die Christa Wolfs Ziel ist, auch und gerade mit der
"Kassandra", was ist das Ergebnis dieses "Sehertums", wenn wir "am
Ende" sind und es nur darum gehen kann, "ohne Alternative zu leben und
doch zu leben" (V 107), und wie verändert dieses "Sehertum" den
Sehergott Apollon, der heute nichts mehr weiß von seiner
Geschichte?
Christa Wolf
erläutert in ihrem Reisebericht, wie sie nach dem ersten
historisch-mystischen Erlebnis im "Bannkreis" von Kassandras Blick
bleibt. Erst in Athen "kommt" sie wirklich und endgültig "an", und
zwar während der Besichtigung der Akropolis:
"Und dann tritt man,
traten wir vor die Koren vom Erechtheion, die im Museum auf der
Akropolis vor der totalen Zerstörung sichergestellt sind. Sie
stehen da in einem Halbrund, blicken auf uns Betrachter herab und
weinen. Der Stein weint, halten Sie das nicht für eine Metapher.
Über die Gesichter der steinernen Mädchen sind Tränen
geströmt, die sie zerfressen haben. Etwas, stärker als
Kummer, hat sich in diese schönen Wangen eingegraben; saurer
Regen, vergiftete Luft. Mögen diese Gesichter ehemals blick- und
ausdruckslos gewesen sein - unser Jahrhundert hat ihnen seinen Ausdruck
aufgenötigt, den der Trauer, der, als bekäme ich von innen
her einen Stoß, in mir ein Echo findet. Alles, was durch Trauer
mitbewegt wird, beginnt sich zu rühren, Zorn, Angst, Grauen,
Schuld, Scham. Ich bin angekommen." (V 22 f.)
Ein zweites
historisch-mystisches Erlebnis, dieses Ankommen. Der Blick der Koren,
wie vorher der Kassandras, trifft die Betrachterin, diesmal ein Blick
in Tränen. Dem Anstoß von außen korrespondiert einer
von innen, die eigene, nach ganz innen verdrängte Schmerz-Gestalt
rührt sich. "Ein Zwang ist über mich gekommen. Sind die
blicklosen Augen jener Koren mir geöffnet worden? Mit diesen
uralten brennenden Augen trieb ich nun durch die Stadt und sah die
heutigen Menschen, meine Zeitgenossen, als Nachfahren." (V 23)
Der ganze Schmerz aus
der jahrtausendewährenden Geschichte der zum Objekt gemachten und
zerstörten Frau, von der Balkenträgerin-Funktion der Koren in
der Antike bis zur "zerfressenden" Zerstörung in unserem
Jahrhundert, ist in dem Blick versammelt, der zum Blick der
Erzählerin der Christa Wolf geworden ist: "mir sind die Augen der
Koren geöffnet", sehend bin ich: sie, sind sie: ich. Die Quelle
des Sehertums ist also namenloser Schmerz.
"Auf einmal merkte ich,
da das Herz mir sehr weh tat", sagt Kassandra in dem entscheidenden
Gespräch zwischen ihr und Arisbe über die Unfähigkeit,
sich selber zu sehen, zu erkennen. Nachdem Achills Grausamkeit "in uns
jene Stelle ausgebrannt [hatte], aus der Schmerz, Liebe, Leben,
Träume kommen können" (s. o.), ist es Kassandra nach dem
Gespräch mit Arisbe möglich, "mit wiederbelebtem Herzen, das
der Schmerz erreichte", weiterzuleben. Und Christa Wolf fragt sich:
"Besteht ihre [Kassandras] Zeitgenossenschaft [mit mir] in der Art und
Weise, wie sie mit Schmerz umgehn lernt? Wäre also der Schmerz -
eine besondre Art von Schmerz - der Punkt, über den ich sie mir
anverwandle, Schmerz der Subjektwerdung?" (V 89)
Das ist die Geschichte
der Kassandra, die Geschichte, die sie selber erzählt. Ihre
Grundfrage, die sie rückblickend mehrmals an sich selber richtet,
lautet nicht: Wie bin ich an die Sehergabe gekommen? Ihre Frage lautet:
"Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?" (K 6/11) Immer hat sie, wie
sie sagt, "im Mittelpunkt der Blicke eines Gottes" gestanden, "als
Kind, als Mädchen, Priesterin" (K 27); dieser Blick, dieses Sehen
der anderen, hat sie zu deren Objekt gemacht. Immer ist alles "an
Schnüren" gelaufen, "die nicht in meinen Händen liegen", so
schon "die Bewegungen des Mädchens, das ich war, Wunsch- und
Sehnsuchtsbild, die junge helle Gestalt im lichten Gelände,
heiter, freimütig, hoffnungsvoll, sich selbst und anderen
vertrauend, verdienend, was man ihr zuerkannte, frei, ach, frei. In
Wirklichkeit: gefesselt. Gelenkt, geleitet und zum Ziel gestoßen,
das andre setzen" (K 28). Die ständig wiederholte Erfahrung des
Objektseins, das nur zwei Möglichkeiten offen lässt, von den
Männern entweder "gewählt zu werden" oder nicht (K 20), diese
Erfahrung führt dazu, dass Kassandra vor den anderen
"zurückweicht". "Brauchte und verlangte Unnahbarkeit. Wurde
Priesterin", erinnert sie sich (K 25). Zwar geht die Entscheidung, dass
sie Priesterin wird, auf ihr Mutter Hekabe zurück, auch zum
Priesterinnenamt wird sie "gestoßen". Gleichzeitig aber hat
sie selber aus sich heraus den Wunsch - den sie vor sich selber
bis in die letzte Stunde ihres Lebens verbirgt -, "Priesterin [zu]
werden, um Macht zu gewinnen" (K 60). "Unnahbarkeit", das ist Reaktion
auf das Objektsein; "Machtstreben", das bedeutet schon:
Selber-Objektmachen. Ähnlich ergeht es ihr mit dem Empfang der
Sehergabe: "heiß begehrt" sie diese (K 19). Der Traum, in dem sie
ihr verliehen wird, kommt zwar "ungerufen", kommt aber aus ihr selber.
Sie will nicht mehr gesehen, als Objekt "erkannt" werden, sondern sich
selber, als Subjekt, sehen. Aber schon der Anfang dieses
Sich-selber-Sehens misslingt: der erträumte Apollon verleiht ihr
zwar die erträumte Sehergabe, aber zu dessen
Selbstverständnis einer Priesterin, einer Seherin gegenüber
gehört das männliche Besitzenmüssen. Dem setzt sie,
anders als andere Frauen, Widerstand entgegen, lässt sich (im
Traum) nicht zum Objekt machen, aber sie geht aus diesem Kampf zutiefst
verstört und verletzt hervor. Andererseits "gebraucht" sie
später, kompensatorisch, ihre Sehergabe auch als Imponiergehabe,
indem sie das "Erbleichen" der ihren Voraussagen Zuhörenden
genießt - sie macht also ihre Zuhörer ihrerseits zu Objekten
(K 23).
Der "Schmerz der
Subjektwerdung", des Sich-selber-sehen-Lernens, ist also ein doppelter:
Christa Wolf charakterisiert Kassandras Weg, indem sie lm Tagebuch
knapp notiert: "Ihre innere Geschichte: das Ringen um Autonomie." (V
118) Es geht um einen Befreiungsprozess: da Subjekt zu werden, wo sie
Objekt war, "das Opfer, das seiner Opfer-Funktion innewird und den
Dienst im Ritual verweigert" (V 151). Auf eine solche Verweigerung
reagiert aber die patriarchalische Gesellschaft "ratlos" (aaO) und
repressiv, zerstörend. "Wodurch konnte sie so zerstört
werden?, das ist [...], soweit ich sehen kann, die den Stoff
organisierende Frage, die aber leider, ja: leider, nicht objektiv,
nicht auf alte oder neue, auch auf die allermodernste Romanweise nicht,
zu beantworten ist." (V 151 f.) Christa Wolf redet hier von der
Franza-Figur der Ingeborg Bachmann, meint aber auch ihre 'eigene'
Kassandra. Die gestellte Frage ist wohl deshalb so schwer zu
beantworten, weil der Vorgang des Objektwerdens, "der entsetzliche
Vorgang der Versteinerung, Verdinglichung am lebendigen Leib (V 148)
als Vorgang des Gesehen-Werdens nach den Gesetzen der männlich
bestimmten Gesellschaft gleichzeitig ein ästhetischer Prozess ist,
dergestalt dass er aus dem lebendigen Menschen ein "Idol" macht - das
Mädchen, die "junge helle Gestalt im lichten Gelände", die
schöne Frau, die Priesterin -, jeweils also eine
mythologisch-heroische Figur, die dann ebenfalls wie die Männer
tragisch enden darf. "Emanzipation" aber - davon spricht Christa Wolf
auf den letzten Seiten der "Voraussetzungen"- besteht dann gerade nicht
in "Gleichberechtigung", sondern bedeutet die Selbstzumutung, vom hohen
mythologisch-tragischen Kothurn herunterzusteigen - und das, obwohl
sich die Unterdrückungssituation nicht verändert. Das ist
nicht nur "schwer", sondern sogar "gefährlich" (V 14), d.h. unter
Umständen seelisch nicht zu verkraften.
Christa Wolf lässt in der Erzählung Kassandra und Arisbe in
nuce eine 'Philosophie des Sehens' entwickeln. Kassandra hat ihr
Sehergabe aus dem "Unbewussten" empfangen. Aber zunächst "sah
[ich] nichts. Mit der Sehergabe überfordert, war ich blind. Sah
nur, was da war, so gut wie nichts. (K 33) Und erst zum Schluss kann
sie sagen: "Jetzt kann ich sehen, was nicht ist, wie schwer hab ichs
gelernt." (K 34) Was wir normalerweise sehen - das, "was da ist" -, das
sind nur "Bilder", schöne "Idole", sie gehören in die
fertigen Mythen, die "Lebensabwehrmythen" der damaligen oder der
heutigen Zeit. An der Oberfläche sieht Kassandra zum Beispiel
Ereignisse, "die, angeblich, die Geschichte des Königshauses
ausmachten". Zum ersten Mal sieht sie diese Ereignisse wirklich, als
sie deren wahren Charakter "durchschaut": sie erkennt nämlich,
dass sie "süchtig machen, auf immer neue Ereignisse, zuletzt auf
Krieg" (K 33). So etwas wagen wir im allgemeinen nicht zu sehen.
Der ideologische Wahncharakter der Welt, der "Realität", wird vor
allem in der mythologischen Figur der Helena deutlich. Um Helena dreht
sich alles, was die äußere Handlung der Erzählung
ausmacht: der Trojanische Krieg und seine Vorgeschichte. Aber Helena
ist ein "Phantom" (K 80), sie ist gar nicht mit Paris nach Troja
gekommen, kann also auch nicht von den Griechen befreit und
zurückgeholt werden. Allerdings erfährt das niemand
außer dem König und dessen engsten Vertrauten. Die
Kämpfenden auf beiden Seiten brauchen die schönste aller
Frauen, oder vielmehr sie als Vorstellung, als Idee, um einen
akzeptablen Kriegsgrund zu haben. Die Trojaner vor allem meinen, in
diesem "Idol" das hehre Ideal der Schönheit zu verteidigen. "In
Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr
hatten" (K 97), letztlich die Werte, die seit dem Ende des "Goldenen
Zeitalters" (K 43) in Troja nicht mehr existieren und jetzt wieder
"heraufgeführt" werden sollen - jedenfalls nach den Worten der
Herrschenden. Das aber sieht außer Kassandra niemand.
Sehen - sich selbst und den wahren Zustand der Welt - kann nur einer
oder eine, die das Objektsein erlitten und es "geglaubt" hat, es also
nicht mit Hilfe eines Mythos, eines schönen "Bildes",
überdeckt, sondern durchlebt und darin für wirklich gehalten
hat, einer oder eine, der/die nicht den "Götzenbildern" geglaubt
hat, seien es die Götzenbilder des Matriarchats - Kassandra
zählt sie auf - "Artemis, Kybele, Athene" -, seien es die des
west-östlichen "Mythos Maschine", seien es die des Marxismus, an
den Christa Wolf nicht mehr "glauben" kann (V 72/131, parallel zu K
112), sosehr sie nach wie vor zu ihrer sozialistischen Herkunft steht.
Was aber sieht jemand, der gefeit ist gegen den schönen Schein,
die wahnhafte Mythologie der Lebensabwehr-Realität?
"Täglich versuche ich mehrmals [schreibt Christa Wolf im Tagebuch
der "Voraussetzungen"], wenn auch nur sekundenlang, mir vorzustellen,
wie die Vernichtung 'aussehen', wie sie sich anfühlen würde
(wird). Warum nur sekundenlang? Weil die inneren Bilder
unerträglich sind? Auch. Vor allem aber, weil eine tief
eingewurzelte Scheu es mir verbietet, durch allzu intensive, allzu
genaue Vorstellung das Unglück 'herbeizuziehn'. Übrigens:
Eben dies war ja Kassandras 'Schuld', für die sie, wie sie wohl
fühlt, zu recht 'bestraft' wird." (V 110) "Schuld" steht in
Anführungszeichen, denn Kassandra stößt ihre
Seher-Worte jeweils nicht im Zustand der Selbstüberhebung, sondern
des Selbstverlusts aus, in "Anfällen" von "Wahnsinn" ("Wahn-Sinn",
K 69). Sie ist nicht bei sich selbst, "die Stimme, die das sagte, war
mir fremd" (K 45), sie ist "unbeherrscht", also nicht selbstbestimmt,
aber auch "unbeherrschbar" (K 46), nicht mehr Objekt der
Lebensabwehrwelt. Christa Wolf spricht im Tagebuch von Kassandras
"Regression in undifferenziertere Stadien ihrer Person" ( 118).
Kassandra erinnert sich:
"Zwei Gegner auf Leben und Tod hatten sich die erstorbne Landschaft
meiner Seele zum Kampfplatz gewählt." (K 70) Die beiden Gegner
sind einerseits das Selbsterhaltungs-Ich, andererseits die
"Todesstimme" innen, einerseits die realitätszugewandten "Sinne",
andererseits die "ungeheuren Gesichte" in der inneren "Unterwelt" (K
70). Der "Wahnsinn" ist dieser Kampf, die Regression "schützt"
Kassandra aber auch "vor dem unerträglichen Schmerz, den die
beiden mir sonst zugefügt hätten" (aaO). Arisbe ist es, die
Kassandra aus dem Wahnsinn herausreißt: "Schluss mit dem
Selbstmitleid." Und: "Tauch auf, Kassandra, sagte sie. Öffne dein
inneres Auge. Schau dich an." (K 71) Kassandra "taucht" dann
wirklich "auf", sie "schaut" auch wirklich, "sieht" aber nur die
anderen: "Hekabe. Priamos. Panthoos. So viele Namen für
Täuschung. Für Zurücksetzung. Verkennung. Wie ich sie
hasste. Wie ich es ihnen zeigen wollte." (K 72) Diese Reaktion
akzeptiert Arisbe jedoch nicht: "Und wie steht es mit dir?" Und sie
lässt auch Kassandras nächste Reaktion nicht gelten: "Wieso
mit mir? An wem ich mich vergangen habe? Ich, die Schwache? An all
diesen Stärkeren? - Wieso hast du sie stark werden lassen? Die
Frage verstand ich nicht." (K 72)
Erst nach einiger Zeit
des Aufenthalts bei Arisbe und den anderen Frauen in den Höhlen am
Ufer des Skamandros versteht Kassandra mehr, Arisbe klärt sie auf:
Die mythologischen Figuren, die den Blick auf die wahre Wirklichkeit
verstellenden "Bilder" - "Artemis, Kybele, Athene, wie auch immer" -
stehen "für das, was wir in uns nicht zu erkennen wagen" (K 140).
Man muss sie "als Gleichnis nehmen" (aaO). "Du meinst, Arisbe, der
Mensch kann sich selbst nicht sehen. - So ist es. Er erträgt es
nicht. Er braucht das fremde Abbild. - Und darin wird sich nie was
ändern? Immer nur die Wiederkehr des Gleichen? Selbstfremdheit,
Götzenbilder, Hass? - Ich weiß es nicht." (K 141) Kassandra
formuliert die gleiche Einsicht in die Unmöglichkeit oder
Unzumutbarkeit des Sich-selber-Sehens später härter:
"Ameisengleich gehn wir in jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von
Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Was denn? Uns." (K 49)
Wie realistisch ist dann
die Forderung "Erkenne dich selbst", wenn "der Mensch es nicht
erträgt, sich selbst zu sehen? Wie kommt es zu dieser letztlich
selbstzerstörerischen Flucht vor der Selbsterkenntnis? Christa
Wolfs Antwort ist: Aus "Angst" vor "Schmerz" flüchten wir in
Sicherungssysteme, gegen deren Zerstörungscharakter wir blind sind
(K 37). Kassandra hat das erlebt: "Mir kommt der Gedanke,
insgeheim verfolge ich die Geschichte meiner Angst. Oder, richtiger,
die Geschichte ihrer Entzügelung, noch genauer: ihrer Befreiung.
Ja, tatsächlich, auch Angst kann befreit werden, und dabei zeigt
sich, sie gehört mit allem und allen Unterdrückten zusammen.
Die Tochter des Königs hat keine Angst, denn Angst ist
Schwäche und gegen Schwäche hilft ein eisernes Training. Die
Wahnsinnige hat Angst, sie ist wahnsinnig vor Angst. Die Gefangene soll
Angst haben. Die Freie lernt es, ihre unwichtigen Ängste abzutun
und die eine große wichtige Angst nicht zu fürchten, weil
sie nicht mehr zu stolz ist, sie mit anderen zu teilen." (K 41) Diese
"eine große wichtige Angst" vermag, vielleicht auch in
nachmatriarchalischen Gesellschaften,aus einer Haltung heraus zu
entstehen, die nicht mehr davon ausgeht, den Grund der Existenz
des Einzelnen mache irgendein Grandioses aus, ein großes
Subjekt, das "ist" und "sich" gleichzeitig auch "hat" (E. Bloch) und
sich auf dieser Basis zum "Herrn der Welt" (V 118) aufzuschwingen
versucht.
Also doch nicht: "Immer nur die Wiederkehr
des Gleichen?
Selbstfremdheit, Götzenbilder, Hass?" Arisbe weiß immerhin
eines: "Es gibt Zeitenlöcher. Dies ist so eines, hier und jetzt.
Wir dürfen es nicht ungenutzt vergehen lassen." (K 141)
© Dieter Schrey 2006