Gestern (im Februar 2009)
habe ich bei
Google den Begriff „Kassandra“ eingegeben – ca. 2.530.000 Ergebnisse –
beachtlich, aber zu unspezifisch, damit kann man nichts anfangen. Weil
mich die Aktualität des Themas interessierte, habe ich es dann mit
der Begriffs-Kombination „Kassandra + Finanzkrise“ versucht – die Suche
ergab 6.460 Ergebnisse! Zum Beispiel kam ich dadurch einem aktuellen
Text aus der „ZEIT“ über „Kassandras Albtraum“
auf die Spur, in dem gegenwärtige
Konjunktur-Prognosen thematisiert wurden. Und in einem
Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ vom 29. Januar 2009 wurde ein
New Yorker Wirtschaftsprofessor als „Kassandra“ bezeichnet, weil er
schon vor 2 Jahren auf dem Weltwirtschaftsforum die gegenwärtige
Finanzkrise präzis vorhergesagt hatte und niemand ihm damals und
auch später noch glauben wollte. Heute sagt er – und diese Deutung
wird uns nachher auch in Christa Wolfs Erzählung
beschäftigen: „Ich bin kein Genie. Ich habe nur richtig
hingeschaut“ – getan, was alle hätten tun können und sollen.
Offensichtlich ist das Thema „Kassandra“ angesagt, auch im Bereich der
Kunst steht es im Augenblick auf der Tagesordnung: In Berlin läuft
seit November eine große Kunstausstellung „Kassandra – Visionen
des Unheils“.
Interessant - aber die
Aktualitätsfrage kann ich in meinem Vortrag nur am Rande streifen,
jetzt geht
es erst einmal um
Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ aus dem Jahr 1983 als Pflichtlektüre der
nordrhein-westfälischen Abiturjahrgänge 2009 und
2010. Ich bin um
eine Einführung
gebeten worden. So ist es notwendig, vorweg kurz die
sog. verbindlichen
Lehrinhalte zu benennen,
die mit dieser Pflichtlektüre in NRW verbunden sind und die ich
dementsprechend
berücksichtigen werde:
Christa Wolfs „Kassandra“
ist zu
behandeln 1.)
unter Einbeziehung
ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen von 1982,
die ein Jahr später unter dem Titel „Voraussetzungen einer
Erzählung: Kassandra“
gleichzeitig mit der Erzählung veröffentlicht worden sind und
mit ihr zusammen
als das „Kassandra-Projekt“ bezeichnet werden. „Einbeziehung“ der
Poetik-Vorlesungen heißt nicht: zusätzliche Lektüre
(!), sondern bedeutet wohl
faktisch: „Benutzung von Textauszügen, die z.B. Schulbuchverlage
zur Verfügung
stellen“. (Ich weise hin auf die von mir zusammengestellten Materialien
des
Schroedel-Verlags zu „Kassandra“, Schülerheft und Lehrerheft.)
Christa Wolfs „Kassandra“
ist 2.) zu behandeln unter Einbeziehung zweier Aspekte: a)
der
Auseinandersetzung mit dem Mythos und b) der Literatur im geteilten
Deutschland.
Was mit diesen beiden Aspekten im Einzelnen gemeint ist, das wird –
denke ich –
aus meinen Ausführungen hervorgehen.
1)
Kassandra
und
Christa Wolf –
1250 v.Chr. und 1982 n.Chr.
In
den Frankfurter Poetik-Vorlesungen sowie
in vielen späteren Interviews hat die Autorin Christa Wolf
deutlich gemacht,
dass sie im
Schicksal
der Priesterin-Seherin Kassandra im Troia des 13. Jahrhunderts vor
unserer
Zeitrechnung sich selbst und
ihre Gegenwart
der 1980er-Jahre gespiegelt sieht:
- sich selbst als
Intellektuelle der DDR, die der
staatstragenden Partei angehört, dort zeitweise offizielle
politische Ämter
bekleidet hat und darüber hinaus als Autorin aufgrund ihres
schriftstellerischen
Erfolgs eine spezifische Verantwortung für die Gesellschaft ihres
Landes
empfindet, gespiegelt in der trojanischen Königstochter, die als
Apollon-Priesterin
und Seherin religiös-ideologische
und darin politische
Ämter ausübt,
- gespiegelt auch ihre
Gegenwart: die Situation in Europa
angesichts des atomaren Wettrüstens in Ost und West und der von
vielen zu
Beginn der 1980er-Jahre ernsthaft befürchteten nuklearen
„Selbstzerstörung“
Europas (V 135f.), gespiegelt in den Ereignissen, die zum historischen,
jedenfalls in Mythen erzählten Trojanischen Krieg vor 3 000 Jahren
geführt
haben. So hat die Autorin in ihrem Tagebuch der Jahre 1980-1982, das
integraler
Bestandteil des „Kassandra“-Projekts ist, notiert: „Nie sei die Gefahr
eines
Atomkriegs in Europa so groß gewesen wie heute, erklärt das
schwedische
Institut für Friedensforschung in seinem Jahresbericht. […] Ich
aber bin
Europäerin. Europa ist gegen einen Atomkrieg nicht zu verteidigen.
Es wird nur
als Ganzes überleben oder als Ganzes zugrunde gehn […].“ (110f.)
„Jetzt muß man
nicht mehr »Kassandra« sein: Die meisten
beginnen zu spüren, was kommen wird.“ (V 122) „Der
Wahnsinn geht mir nachts an die Kehle.“ In dieser Situation erscheint
ihr „das vielleicht ganz und gar Aussichtslose vernünftig“,
nämlich auf der
eigenen Seite, im Osten, „einseitig abzurüsten“ (8. Juli 1980; V
111). Diese
Zumutung der Autorin an die eigene
Seite – einseitige Abrüstung! – entspricht der Erfahrung ihrer Figur Kassandra im Umgang mit den „Eignen“
(K 80), den Troern, in der Situation des „Vorkriegs“, des
Hineinschlitterns in
eine irgendwann nicht mehr zurückzunehmende Entwicklung: Von den
„Eignen“ hat sie
sich nämlich lange Jahre „täuschen“, ideologisch hinters
Licht führen lassen,
sie seien die Besseren, hätten eine friedlichere Grundhaltung,
eine
ursprüngliche, letzte Legitimation für ihre Handlungsweise.
Erst spät gelangt
sie zu der Einsicht, dass der troische Kriegstreiber und
Staatssicherheitschef
Eumelos den griechischen Brutal-Helden Achill „braucht [...] wie ein
alter
Schuh den andern“: „Er setzt das voraus, was er erst schaffen
muß[te]: Krieg.
Ist er soweit gekommen, nimmt er diesen Krieg als das Normale und setzt
[dann] voraus[:],
aus ihm [aus dem Krieg heraus] führt nur ein Weg, der heißt:
der Sieg.“ (K 125)
Das ist der Mechanismus der wechselseitig sich hochschaukelnden
Aufrüstung bis
zum katastrophalen point of no return, in Troia wie bei den Griechen,
nach
Ansicht von Christa Wolf 1980/83 auch in Ost und West. „Die Motive der
archaischen Kämpfer […] schienen mir nicht grundsätzlich
verschieden zu sein
von denen unserer Raketenvergötterer“, sagt Christa Wolf in einem
Vortrag 1998
(in: C.W., Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild,
Berlin 1998,
S. 14).
„Ich habe dieses Land
[die DDR] geliebt [, schreibt sie 1993
{21.03.1993} in einem Brief an Günter Grass]. Daß es am Ende
war, wußte ich
[...]. Ich habe das in Kassandra beschrieben
[...]; ich wartete gespannt, ob sie es wagen würden, die Botschaft
der
Erzählung zu verstehen, nämlich, daß Troja untergehen
muß. [...] Die Leser in
der DDR verstanden sie.“ (Peter Böthig, Eine Biographie in Bildern
und Texten,
München 2004, S. 107f.) Aber auch die Leser in der Bundesrepublik
und anderswo bezogen
nach dem Erscheinen der „Kassandra“-Erzählung 1983 die gegen das
Wettrüsten
gerichtete Botschaft deshalb auch auf
sich, auf ihren Staat und ihr
Gesellschaftssystem, weil sie verstanden:
In der
„Kassandra“-Erzählung stehen sich zwei archetypische,
modellhafte Gegner gegenüber, beide mit der gleichen
heroisch-martialischen,
eroberungs-, letztlich todessüchtigen Ideologie „Sieg
oder Untergang“ (V 184) – das meint ja der Ruf des Aineias, der
Kassandra vor dem Start der Zweiten Schiffsunternehmung so erschreckt:
„Hesione
oder den Tod!“ ruft Aineias ihr zu (K44), d.h. ‚erfolgreiche
Rückeroberung der
spartanischen Königin Hesione oder Untergang in Schande’,
‚entweder – oder’.
Der Unterschied zwischen den Kriegsgegnern besteht nur darin, dass die
auf der einen
Seite (die Griechen) diese Devise aus sich heraus, scheinbar
wesensmäßig vertreten
und ausagieren, mit „Konsequenz“, wie es der vor seinen Landsleuten
geflohene
griechische Priester Panthoos im Gespräch mit Kassandra
ausdrückt (K 38),
während sich die Troer auf der anderen Seite auf der Basis ihres
Unterlegenheitsgefühls
erst im Laufe der Zeit mehr und mehr die siegorientierte heroische
Gesinnung einreden
und aufprägen lassen: „Wir sollten werden
wie der Feind, um ihn zu schlagen.“ (K
38) Aber: „Wer sehen konnte, sah am ersten Tag: Diesen Krieg verlieren
wir“ (K
88) – sah dies vor allem nach dem ‚Erstschlag’, dem grässlichen
Lustmord des
Achill an dem mutigen, schönen „Knaben“ Troilos, Kassandras
Bruder. „Mörderlust
und Liebeslust in einem Mann? Durfte unter Menschen das geduldet
werden?“ (K
89)
2)
Achill – archetypische
Verkörperungen des Aggressions- und Todestriebs
Wenn wir genauer
hinsehen, werden „die Griechen“ vor allem durch
die Figur des Achill repräsentiert. Achill – das ist eigentlich,
in der
mythologischen Tradition, der Sohn des Peleus und der Meeresnymphe
Thetis, um ihn und seinen Zorn dreht sich das
Ur-Epos der abendländischen Literatur, Homers „Ilias“, und er wird seither in dieser Tradition als
größter Held der Griechen,
ja, als einmalig größter Held überhaupt gerühmt,
und nicht nur als das, sondern
auch als liebender, verletzlicher Mensch, dessen martialisches
Übermaß dem
Übermaß seiner seelischen Verletzungen entspricht:
„Singe den Zorn,
o Göttin,
des Peleiaden Achilleus“ – so beginnt die „Ilias“.
Ja, und dann, in Christa
Wolfs Erzählung: „Achill, das Vieh“
– wie Kassandra ihn dort an immerhin 30 Stellen nennt. Der Halbgott ein
tierisches Tier – welche Provokation, eine solche Uminterpretation der
klassischen literarischen Figur. Allerdings nimmt Kassandra das
Weiterwüten des
„schlimmsten Feindes“ Troias (K 150) in Kauf, um zu verhindern, dass
ihre
Schwester, die sich selbst immer wieder den Männern als
begehrenswertes Objekt
dargeboten hat, nun endgültig – Lockvogel für Achill – von
den Männern als lebendig-totes Objekt behandelt
wird,
als bloßes Mittel zum Kriegszweck, Opfer der troischen
Staatsräson. Eine solche
Haltung ist ihr möglich, weil sie – Kassandra – zuvor, nach dem
schrecklichen
Tod der Amazonenkönigin Penthesilea, in der Zeit bei den Frauen am
Skamander-Fluss, gelernt hat, „daß
es für die
Greuel, die Menschen einander antun, keine Grenzen gibt: daß wir imstande sind, die
Eingeweide des andern
zu durchwühlen,
seine Hirnschale zu
knacken, auf der Suche nach
dem
Gipfelpunkt der Pein. »Wir« sag ich, und von allen Wir, zu denen ich gelangte, bleibt
dies dasjenige, das mich
am meisten anficht. »Achill das Vieh« sagt
sich um so vieles leichter als dies Wir.“ (K 141) „Achill, das
Vieh“ müssen/sollen
wir offensichtlich ansehen als – archetypische Verkörperung des
allgemein menschlichen
Aggressions- und Todestriebs, einer tief sitzenden menschlichen
Bereitschaft zur
Destruktion, ja, zu sadistischem Handeln.
Christa Wolf sucht in
ihrer Erzählung nach solchen
Ursprungs-Verkörperungen, Ur-Mustern menschlicher
„Destruktivität“ (V 135f.): Achill, das Vieh (wie
dargestellt); Paris, der ursprünglich naive nette
Junge, den man aber aufgrund seiner narzisstischen Unsicherheit bis zu
einem gigantomanischen
Selbstbewusstsein manipulieren kann; Agamemnon,
der an sich schwache Mann einer starken Frau, der diese seine
Schwäche durch „ausgesuchte Grausamkeit im Kampf“
kompensiert; Priamos, der eigentlich sympathische
König, ebenfalls Mann einer
starken Frau, durch sein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl
(er hat Angst
vor einem „Gesichtsverlust“ gegenüber den Griechen) ist er blind
für die realen
Machtverhältnisse und trifft dadurch fatale politische
Fehlentscheidungen; Eumelos, ein „fähiger Mann“
aus einfachen
Verhältnissen, der sich zum Chef des Staatssicherheitsdienstes
hocharbeitet und
zum ärgsten Kriegstreiber wird; Aineias
– eigentlich, wie es in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen heißt,
„Zartsinn,
gepaart mit Kraft“ (V 59), aber einer, der auch in der Niederlage nicht
aufgeben kann und sich im Zweifelsfall für das mit der „Kraft“
Erreichbare
gegen den „Zartsinn“, die Liebe zu Kassandra, entscheidet, weil die
Fortsetzung
des „Zartsinns“ den Untergang bedeuten würde – und stattdessen ist
„Überleben“
die Devise. Und Panthoos – eigentlich
auf der anderen Seite, der Seite der Opfer –, ein Realist und
Pessimist, der zynisch
die Theorie für das aggressive Handeln der Helden-Männer
liefert, indem er „für jede
Handlung oder Unterlassung
einen einzigen Grund nur zuließ: Eigenliebe“ (K 15).
„Was soll werden, wenn das
um sich greift. Die Männer, schwach, zu Siegern hochgeputscht, brauchen, um sich
überhaupt noch zu
empfinden, uns [die Frauen]
als Opfer.
Was soll da werden.“ (K 143) Eine ihrerseits
über-heroische Antwort auf
diese verzweifelte Frage gibt, auf der Seite der Opfer, der Frauen,
Penthesilea.
Gefragt: „Du willst, daß alles aufhört“, antwortet sie: „Das
will ich. Da ich kein
andres Mittel kenne, dass die Männer aufhören“: „Todessucht
bei einer Frau“,
konstatiert Kassandra (K 140f.).
3)
“Wann hat es angefangen?“
Entfremdungserscheinungen der abendländischen Zivilisation
In den Frankfurter
Poetik-Vorlesungen wird klar, dass die Autorin solche
Ur-Muster menschlicher Destruktivität aus
einem ganz spezifischen Gegenwartsinteresse
heraus sucht, dahinter steht ihre kritische Frage nach den Wurzeln der
destruktiven
Grundstrukturen der modernen, „europäischen und
nordamerikanischen“
„Industriegesellschaften“, der „Entfremdungserscheinungen in unserer
[abendländischen]
Zivilisation“ (Gespräche mit Jacqueline Grenz, C.W., Werke, Bd.8,
S. 353f.). Dabei
versucht sie nicht, diese in der biologischen
oder psychologischen Natur des
Menschen aufzufinden, sondern konkret in der Geschichte, allerdings
dort nicht
irgendwo, an der einen oder anderen Stelle, sondern grundsätzlich,
sie versucht dem Problem auf den Grund zu gehen: In
den Poetik-Vorlesungen stellt sie die Frage: „Wann hat es angefangen?“
(V 135f.) Diese Frage setzt unausgesprochen die
Annahme voraus, dass es einen solchen Anfang überhaupt gegeben
hat, sowie, dass
davor eine Zeit wirklich existiert hat, die durch nicht-destruktives
menschliches
Handeln charakterisiert gewesen ist. Das ist zunächst einmal eine
historische
Hypothese! Mit dieser geht die Autorin dann an die geschichtlichen
Dokumente und
an historische Darstellungen heran – Homers „Ilias“, Dramen von
Aischylos und
Euripides, über 100 wissenschaftliche Bücher, die sich mit
der frühen
Geschichte rund um die Ägäis beschäftigen. Mit der
Hypothese ist dann ein gedanklicher
Dreischritt verbunden: (1) Wenn sich bei dem Quellenstudium
herausstellen
sollte, dass es zu Beginn, am Ursprung zwar nicht der gesamten
Geschichte, aber in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit am
Ursprung der sog. abendländischen
Geschichte menschenmöglich gewesen ist, nicht
aus „Eigenliebe“, nicht-aggressiv-destruktiv
zu handeln, und dass (2) diese ur-sprüngliche Möglichkeit
später dann durch
eine bestimmte – ja, sündenfallähnliche Entwicklung
verlorengegangen ist, z.B.
in der durch Achill und Agamemnon repräsentierten Zeit, dann
müsste es doch
auch möglich sein, (3) jetzt oder in naher Zukunft aus der
bisherigen, mehr und
mehr auf eine Katastrophe zusteuernden Entwicklung „auszusteigen“,
indem man
sich neu am Ursprung, orientiert, den vor Zeiten gemachten historischen
Fehler
identifiziert, korrigiert und auf diesem Weg den ursprünglichen
Zustand wiederherstellt.
Das „war meine Fragestellung der
letzten
sieben Jahre. Und der letzte, weiteste
Schritt zurück in die Frühgeschichte
[im Zusammenhang mit
„Kassandra“] ermöglicht mir, merkwürdig
oder nicht, zugleich ein Vortasten in
die Zukunft, um die es ja, wenn ich über Vergangenes erzähle,
eigentlich geht.“
(Gespr. m. J. Grenz, a.a.O.).
„Wann [also] hat es
angefangen?
[...] War dieser Verlauf unausweichlich? Gab es Kreuz- und Wendepunkte,
an
denen die Menschheit, will sagen: die europäische und
nordamerikanische Menschheit,
Erfinder und Träger der technischen Zivilisation, andere
Entscheidungen hätte
treffen können, deren Verlauf nicht selbstzerstörerisch
gewesen wäre? War denn,
fragen wir uns, mit der Erfindung der ersten Waffen – zur Jagd –, mit
ihrer
Anwendung gegen um Nahrung rivalisierende Gruppen [...] der Grund
für die
weitere Entwicklung gelegt? Mit dem Überspringen von
Größenverhältnissen [...]?
Liegt in der Jagd nach Produkten, immer mehr Produkten, die Wurzel der
Destruktivität? Hätte es, für unsere Länder,
irgendeine Möglichkeit gegeben,
aus diesem Wettlauf auszusteigen, indem wir uns auf andre Werte
orientiert
hätten?“ (Meteln, Sonntag, 26. April 1981; V 135f.). Wo liegt also
der Beginn
des selbstzerstörerischen „Wettlaufs“, der zu den von Christa Wolf
1980/83 als
katastrophal empfundenen „Entfremdungserscheinungen in unserer
Zivilisation“, in
den „europäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaften“
geführt hat?
Bei der Suche nach der
„Wurzel der
Destruktivität“ geht es der Autorin um zwei Entwicklungen: Zum
einen um die
„negative, lebensverstümmelnde Kehrseite“ der technischen
Zivilisation, um den
„Mythos der Maschine und der enthumanisierenden Gesellschaftsordnung,
die er
hervorgebracht hat“ (V 120) – in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen zu
„Kassandra“ zitiert sie so das wenige Jahre zuvor erschienene Buch von
Lewis
Mumford mit dem Titel „Mythos Maschine“ und beschreibt als Ziel der
Industriegesellschaften in Ost und West, auf der Basis der technischen
Entwicklung „soviel wie möglich und auf immer schnellere und
perfektere Weise
zu produzieren“: technologisch-ökonomisch-finanzielle
Omnipotenz. Wenn Christa Wolf in einem Interview vor zwei Jahren
(DIE ZEIT,
25. Oktober 2007, S. 51) im
„Kassandra“-Zusammenhang auf die „Weltkonzerne“ hinweist, „die nur nach
den
Gesetzen von Macht und steigender Gewinnrate strukturiert sind“, sind
wir nicht
weit von der gegenwärtigen Krise entfernt. „Die Leere, die dieses
rein
äußerliche Ziel [schnellstmögliche Steigerung von
Produktion, Profit und Konsum –
heute spricht man
von „Gier“] in
der Mitte [der Gesellschaft] erzeugen
muß, die Aushöhlung der ehemals mit Sinn erfüllten
Ideale, die nur noch als
Schemen in verkrusteten Institutionen ein Pseudo-Dasein fristen“ – das
alles
führt unweigerlich zu letztlich selbstzerstörerischer
„Aggressivität“ (Christa
Wolfs Medea, a.a.O., S. 14).
Den Ausgangspunkt des
anderen
Entwicklungsstrangs, der gegenwärtige „Entfremdungserscheinungen“
erklärt, sieht
Christa Wolf im geschichtlichen „Übergang matriarchalisch
strukturierter, wenig
effektiver Gruppen zu patriarchalischen, ökonomisch effektiveren“
(V 135f.). Sie
geht von einer historischen Epoche im frühgeschichtlichen
Mittelmeerraum aus,
in der die Männer die ursprüngliche hervorgehobene Stellung
der Frauen
usurpierten, sie mehr und mehr in den Hintergrund drängten und
unterdrückten. „Daß
Frauen zu der Kultur, in der wir leben, über die Jahrtausende hin
offiziell und
direkt so gut wie nichts beitragen durften, ist nicht nur eine
entsetzliche,
beschämende und skandalöse Tatsache für Frauen – es ist,
genau genommen,
diejenige Schwachstelle der Kultur, aus der heraus sie
selbstzerstörerisch wird
[…].“ (V 115)
„Wann
hat es angefangen?“ „Es“ – das ist – in der
Zusammenschau der beiden genannten Entwicklungen – die selbstzerstörerische
Spirale der männlichen technologischen Rationalität,
deren Aufgipfelung sich für die Autorin im
mörderisch-selbstmörderischen Wettrüsten
ihrer Gegenwart zeigt. „Angefangen“ hat es nach Ansicht Christa Wolfs,
die sich
dabei auf Ergebnisse historischer Forschung bezieht, konkret in den
Jahrhunderten vor dem Untergang Troias, der als geschichtliches Faktum
angenommen
wird. „Zu
denken wäre [– in der
Zeit Kassandras –] eine
allmähliche – auch gewaltsam-rasche
– Verschiebung der Moral im Mittelmeerraum: zuungunsten der
friedfertigeren,
auf Handel bedachten Minoer von Kreta, zugunsten der
gewalttätigen, auf Raub
angewiesenen achäischen Fürsten: wie Homer sie beschreibt.
[…] Dies würde
Kassandra [in Troia] in die Lage versetzen, sich von einer nicht mehr
gültigen
Utopie trennen zu müssen und einen realen Lebens-Ort zu finden.“
(V 131) Kassandra
würde also an einer historischen „Nahtstelle“ stehen: als „Tochter
eines Königshauses,
in dem die patrilineare Erbfolge gefestigt scheint, ohne daß
deshalb die Königin [… und wir dürfen
ergänzen: die
Priesterin] schon zur
Bedeutungslosigkeit herabgesunken wäre; [eines Königshauses,]
in dem […] die
alten matriarchalischen Kulte [noch] neben den jungen Kulten der neuen
Götter
gepflegt werden mögen […]. Eine Kultur vielleicht, die der strikt
patriarchalischen der mykenischen Achaier, ihrem strikten
Eroberungswillen
nicht gewachsen war.“ (V 180 f.)
Sie haben Christa Wolfs
Rede im Konjunktiv und in „vielleicht“-Sätzen
bemerkt, sie fragt sich, ob sie in solchen Annahmen nicht einem
„Wunschdenken“ (V
131) folgt, wenn sie so „etwas wie eine […matriarchalisch bestimmte]
Friedensordnung
im östlichen Mittelmeer, die von den Achaiern zerstört
wurde“, annimmt. Im
Unterschied zu Autorinnen wie z.B. der feministischen Wissenschaftlerin
Heide
Göttner-Abendroth wahrt sie deutliche Zurückhaltung und lehnt
es ab, die als
historisch angenommenen frühgeschichtlichen matriarchalischen
Kulturen zu einem
paradiesischen Zustand, einer Real-Utopie zu verklären, die dann
wissenschaftlichen Beweischarakter bekommen würde für die
Möglichkeit einer künftigen
Wiederbelebung entsprechender Gesellschaftsstrukturen, vielmehr weist
sie explizit
hin auf die Unmöglichkeit und Nicht-Wünschbarkeit eines
naiven „Zurück zur
Natur“, „zu frühen Menschheitszuständen“ (V 182). Dennoch:
Der irgendwo in der
Zeit zwischen 1.500 und 1.200 vor unserer Zeitrechnung verortete
Kassandra-Mythos könnte als poetischer „Versuch
eines Modells“ ohne Beweischarakter
dienen, als Versuch, der Gegenwarts-Gesellschaft eine „lebbare
Alternative“ (V
122), etwas Authentisches entgegenzusetzen.
4)
Leben: authentisch – entfremdet
Aber worin besteht eine
solche in
der Zukunft vielleicht „lebbare Alternative“? „Leben“ ist der für
Christa Wolf
zentrale Begriff. „Zwischen Töten und Sterben [gemeint: zwischen
Töten und
Getötetwerden] ist ein Drittes: Leben“. (K 141) Nach ihrem totalen
seelischen
Zusammenbruch – nach der Schändung der Leiche Penthesileas durch
Achill und der
grässlichen Ermordung des Panthoos durch die Amazonen – bringt
Aineias Kassandra
zu den Frauen am Skamander, die eine alternative, „matriarchalisch“
orientierte
Lebensform erproben. In Gemeinschaft mit diesen Frauen lebt sie in den
letzten
„zwei Sommern und zwei Wintern“ des Kriegs ein Leben, das sich in jeder
Beziehung von ihrem früheren Palast-Leben unterscheidet: Es ist
ein Leben in
Armut auf der Basis der Selbstversorgung, in „Heiterkeit, die niemals
ihren
dunklen Untergrund verlor“. (K 157) Die Frauen erfreuen sich an
ausgiebigen
Gesprächen, am gegenseitigen Erzählen und Deuten der
Träume, an gemeinsamem
Gesang und vor allem an vielfältiger künstlerischer
Betätigung: „Ich lernte
Töpfe machen, Tongefäße. Ich erfand ein Muster, mit dem
ich sie bemalte,
schwarz und rot.“ Im Rahmen dieser Lebensform ist auch die
Gleichzeitigkeit der
Liebe zu einem Mann und zu einer Frau
möglich, zu Aineias, den Kassandra, wie sie sagt, „liebte […] mehr
als mein
Leben“ (K 156), und zu Myrine, der Gefährtin der
Amazonenkönigin Penthesilea, der
gegenüber sie sich in der gemeinsamen Zeit bei den Frauen „keiner
Zärtlichkeit
mehr enthielt“ (K 10). Entsprechend sieht Kassandra in ihren
Träumen die Farben
Rot und Schwarz nicht mehr als unversöhnliche „Gegner“, sie
erkennt darin die
Integration von „Rot und Schwarz, Leben
und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander
[...].
Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue
Muster, die
unglaublich schön sein konnten.“ (K 147)
Dieses Bild eines in
aller Einfachheit der äußeren
Verhältnisse kulturell hochstehenden, friedlichen, heiteren,
geglückten
menschlichen Zusammenlebens – eine „lebbare Alternative“? Lebbar, also
auch:
wiederholbar? Oder doch eine U-Topie im Sinne des „Kein Ort. Nirgends“,
wie ein
früherer Titel Christa Wolfs heißt? Jedenfalls keine Utopie
im klassischen,
positiven Sinne. Arisbe, die weise Frau am Skamander, spricht von
„Zeitenlöchern“, die „es gibt“ (K 147), quasi-utopischen
Zeit-Inseln, irrationalen,
glückhaften Momenten im Lauf der Geschichte, die sich nicht
willentlich
herbeiführen, nicht vorhersehen lassen, die man aber „nicht
ungenutzt vergehen
lassen“ darf. Die Zeit am Skamander sei ein solches Zeitenloch, meint
Arisbe. Abgesehen
von solchen positiven Unterbrechungen stellt sich für sie die
Geschichte jedoch
eher als ewige „Wiederkehr des Gleichen“ dar, und zwar als
ständige
Wiederholung von „Haß“ und „Selbstfremdheit“, wie auch Kassandra
im Gespräch
mit ihr vermutet.
Dennoch: „Leben“ –
richtiges, echtes, ursprüngliches,
gemeinsames, integrales – ist der Inbegriff dieser Skamander-Kultur.
Nicht weit
entfernt vom Ende ihres Erinnerungsmonologs (K 126 f.) versucht
Kassandra in
philosophisch-poetischen Formulierungen auszudrücken, was mit dem
emphatischen
Lebensbegriff gemeint sein kann. Diese Spitzenformulierungen, auf die
ich gleich
ausführlicher eingehen möchte, gehen in ihrem Gedanken- und
Redezusammenhang
zunächst hervor aus ihrer Auseinandersetzung damit, was „Leben“ ursprünglich in ihrer Biografie
bedeutet hat, aus ihrer
Auseinandersetzung mit dem Zentralthema ihres Lebens in Troia:
mit ihrer „Sehergabe“, die sie „unbedingt“ gewollt hat. In
der „Sehergabe“ und im Amt der Priesterin des Staatsgottes Apollon hat
sie, eigentlich
bis zu ihrer intensiven Begegnung mit den Frauen am Skamander, den Sinn
ihres
Lebens gesehen. Bereits zu Anfang ihres Monologs (K 6) benennt sie, was
sie an
einer bestimmten Stelle ihres Lebens dazu getrieben hat, die
„Sehergabe“ wie
auch das Priesterinnenamt „unbedingt“ anzustreben, nämlich der
heftige Wunsch, mit
Hilfe dieser Fähigkeiten und Ämter eigene Macht zu besitzen,
eine eigene
„Waffe“ – sie gebraucht diesen
Begriff! –,
um so eine unabhängige Position einzunehmen gegenüber der
ganzen Palastwelt, gegenüber
der völligen Vereinnahmung durch ihre Familie, der mit dieser
identischen
troischen Regierung, deren Politik und Ideologie, wie sie später
sagt: gegenüber
der selbstentfremdenden „Übereinstimmung mit den Herrschenden“ (K
76). Das ist
aber ein widersprüchlicher Wunsch gewesen, denn er lief darauf
hinaus, ausgerechnet
die vom offiziellen Staatsgott Apollon verliehene „Sehergabe“ als
„Waffe“ ausgerechnet
gegenüber den Repräsentanten eben dieses Staates einzusetzen.
Das, was dann vor
der Abfahrt des Zweiten und des Dritten Schiffs in „Anfällen“ aus
ihr
herausbricht, gesprochen von einer zwar aus ihrem Inneren kommenden,
aber ihr
„fremden Stimme“ (K 47f.), ist jedoch nicht das erwartete
Machtinstrument, sondern
im Gegenteil etwas, das ihr wahnsinnige Angst macht, sodass sie sich
selbst vor
ihm „in Sicherheit bringen“ muss, wie sie sagt. Später, vor
Mykene, kann sie bekennen:
„Ich freilich hab allmählich meine Waffen abgelegt,
das wars, was an Veränderung mir möglich war.“ (K 6) Und
statt von „Sehergabe“ spricht
sie dann im Rückblick auf ihre „Anfälle“ von „Erfahrung“ (K
127, bereits K 71) –
„Erfahrung“, die ihr einen ganz neuen Zugang
zur Wirklichkeit und zu den Menschen eröffnet hat, der sich nicht
nur von dem
ihrer trojanischen Sozialisation unterscheidet,
sondern auch von dem, den sie bei den Griechen
kennengelernt hat:
5)
Kassandra und die
Griechen –
Träume/Visionen und rationales Denken
Nun also diese
philosophisch-poetisch genannten Sätze
Kassandras, die ihre „Erfahrung“ umschreiben:
„Für die Griechen
gibt es nur entweder Wahrheit oder Lüge,
richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben
oder Tod.
Sie denken anders. Was nicht sichtbar, riechbar, hörbar, tastbar
ist, ist nicht
vorhanden. Es ist das andere, das sie zwischen ihren scharfen
Unterscheidungen zerquetschen,
das Dritte, das es nach ihrer Meinung überhaupt nicht gibt, das
lächelnde Lebendige,
das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen,
das Ungetrennte,
Geist im Leben, Leben im Geist.“ (K 127)
Kassandra beginnt mit
zwei Punkten der Kritik, zum einen: Für
die Griechen gebe es nur entweder Wahrheit oder Lüge, Sieg oder
Niederlage,
Leben oder Tod. Diesem „griechischen“ Denken entsprechend ist jeweils
eine
Entscheidung zu treffen. Es geht um die kalte, unpersönliche
Grundüberzeugung, alles
lasse sich definitiv klären – entweder/oder – bzw. es
solle/müsse definitiv zur
Klärung gebracht werden, und sei es auf Kosten eine Streits. In
jedem Fall
zählt der Erfolg, denn es gibt ja nur entweder „Sieg oder
Niederlage“, Erfolg
oder Misserfolg. Woran jedenfalls nicht gedacht ist, das ist eine
gleichzeitige
Geltung des Entgegengesetzten, das wäre nicht rational.
Ich beziehe noch den
zweiten von Kassandra kritisierten „griechischen“
Gedanken mit ein: „Was nicht sichtbar, riechbar, hörbar, tastbar
ist, ist nicht
vorhanden.“ Hier muss nicht mehr nach dem Entweder-Oder-Prinzip
entschieden
werden, hier ist die Entscheidung schon immer und grundsätzlich
gefallen: Dieser
„griechischen“ Überzeugung nach gibt es Realität nur auf der
Basis sinnlicher Wahrnehmung,
keine letzte oder vorletzte Wahrheit „hinter“ den Dingen und
Sachverhalten.
Ich fasse zusammen: Wenn
Kassandra auf die beschriebene
Weise den „Griechen“ einerseits deren konsequent-rationales
Entweder-Oder und
andererseits die Ausschließlichkeit ihrer Orientierung am
oberflächlich-materiell Vorhandenen vorwirft, redet sie als Sprachrohr der Autorin und meint damit die
moderne, zeitgenössische Haltung einer
rationalistisch-technologischen, konsequent
erfolgsorientierten Weltanschauung – wie es in den Frankfurter
Poetik-Vorlesungen heißt: die Tradition des „abendländischen
Denkens“, das
alles Subjektive ausschließt und sich dadurch
„ent-persönlicht“, das mit seinem
„strikten, einwegbesessenen Vorgehen“ immer nur einzelne Fakten mit
angeblich
„gesicherter »Objektivität«“ „herauspräpariert“,
dem aber die „Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen“ gar nicht in den Blick kommen kann und die Erfahrung
fehlt,
wie „im Grunde, vom Grunde her alles mit allem zusammenhängt“. (V
171/174) Es
geht um das, was Philosophiehistoriker mit dem Begriff der
„Logos-Zentrierung
des abendländischen Denkens“ bezeichnen („Logos“ vereinfachend
übersetzt mit
„Herrschaft des Prinzips »Rationalität«“).
Wohlgemerkt: Kassandra
redet nicht gegen den Logos, gegen
Rationalität, allerdings gegen den mit ihm im Allgemeinen
verbundenen
Ausschließlichkeitsanspruch. Als Mädchen hat sie zum ersten
Mal mit Erstaunen
feststellen müssen, dass anderen Menschen auch andere Arten der
Wirklichkeitserfahrung zur Verfügung stehen, die sie in ihrer
engen patriarchalisch
geordneten Palastexistenz nicht für möglich halten konnte.
Marpessa, die
Dienerin, hat sie zum Berg Ida mitgenommen, zum Kybele-Heiligtum, dort
tanzen
die Frauen und steigern sich schließlich in eine „Ekstase“, „in
der sie uns
anderen unsichtbare Dinge sahen“. Kassandra ist zunächst entsetzt:
„Was ging
vor. Wo lebte ich denn. Wie viele Wirklichkeiten gab es denn in Troia
noch
außer der meinen, die ich doch für die einzige gehalten
hatte.“ (K 25) Die
„Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem“ verschwimmt, „der Boden,
auf dem
ich so sicher gegangen war, [ist] erschüttert“. Dass sie selber
bereits zuvor
in ihrem prophetischen Traum vom Schiff, das den Aineias von der troischen Küste
wegführt, und von
einem ungeheuren Feuer“ zwischen den „Wegfahrenden“ und den
„Daheimgebliebenen“
(K 22f.) – dass sie darin
bereits selber die
Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem selbst überschritten
hat, von einem
zum anderen Wirklichkeitsverständnis, ist ihr nach dem
Kybele-Erlebnis noch
nicht bewusst. Später spricht sie von „andren Wirklichkeiten“, die
„die fünf
Sinne, auf die wir uns verständigt haben, nicht erfassen“, obwohl
sie ständig
„in unsre Welt der festen Körper einsickern“ (K 126). Speziell ihr
sind sie auf
geheimnisvolle Weise zugänglich geworden – „für mich nur
spürbar“.
6)
„Einfühlung“ – „den
Mythos lesen
lernen“
Kassandra scheint so
etwas wie eine mystische Sonderbegabung
zu haben, die sich in Träumen äußert und in
plötzlichen Visionen bzw.
Auditionen, die aufgrund ihrer dramatischen körperlichen
Begleiterscheinungen
von anderen für Äußerungen von „Wahnsinn“ gehalten und
inhaltlich abgelehnt werden.
Im Grunde genommen handelt es sich aber um nichts anderes als um „die
Gabe der
Einfühlung“ (K 127), von der Anchises einmal spricht und die er
bei den
Griechen vermisst. „Es ist das Geheimnis, das mich umklammert und
zusammenhält
[bekennt Kassandra vor Mykene], mit keinem Menschen habe ich
darüber reden
können. Hier erst, am äußersten Rand meines Lebens,
kann ich es bei mir selber
benennen: Da von jedem etwas in mir ist,
habe ich zu keinem ganz gehört […].“ (K 6f.) Sie kann z.B.
sagen, dass sie
„Aineias – nein, nicht nur verstand: erkannte. Als sei ich er“ (K 7)
und: „Ich war Hektor“ (als Achill ihn erstach,
verstümmelte, um die Burg schleifte) (K 133 f.). Von jedem
Menschen, mit dem
Kassandra zusammentrifft, hat sie schon immer – aufgrund eines
„absoluten
Gehörs“ (K 41 f.), einer umfassenden Resonanzfähigkeit –
einen Anteil in sich
[sagt sie]. In entscheidenden Augenblicken, die nicht vorhersehbar
sind, wird dann
aus der Vielstimmigkeit dieser Anteilnahmen eine einzige „Stimme“, die
eine
grundlegende, umstürzende „Erfahrung“ ausspricht, eine Wahrheit
jenseits aller
berechenbaren Wahrscheinlichkeit, jenseits des Entweder-Oder von
Wahrheit und
Lüge, jenseits alles „Sichtbaren, Riechbaren, Hörbaren,
Tastbaren“: „Wehe,
wehe. Laßt das Schiff nicht fort!“ Oder: „Wir sind verloren. Weh,
wir sind verloren.“
Die Kehrseite: „Da von
jedem etwas in mir ist, habe ich zu
keinem ganz gehört“ – die Fähigkeit universaler
Einfühlung macht einsam und macht arrogant.
„Hochmut“ wirft Kassandra
sich selbst mehrfach vor (K 16, 27, 38, 95, 145). Das Wissen um die
eigene Einsamkeit
und Arroganz wiederum führt dann immer neu zu verstärkten
Bemühungen, sich doch
der Allgemeinheit anzuschließen, sich doch wieder zu binden,
führt zu neuen Abhängigkeiten,
aus denen sich zu lösen dann erneut schwerfällt, gerade wegen
der gelungenen Einfühlung
– ein Teufelskreis, sodass die Frage entsteht, wo das eigene Selbst
bleibt.
Wie der troischen
Priesterin Kassandra vor 3.000 Jahren, so
ergeht es auch nach eigenem Bekunden in den Frankfurter
Poetik-Vorlesungen der
ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf im Jahr 1980. Nicht rational
begründet will sie nach Griechenland reisen, sondern
„unbewußt“ in Bezug auf
den Sinn der Reise (V 12f.), und sie landet statt im Flieger durch
einen
Zufall, also auf irrationalem Weg, im „Zeitenloch“ eines „geschenkten
Tags“ in
ihrer Berliner Wohnung, liest dort die „Orestie“ des Aischylos, darin
den
Auftritt der ihren Tod erwartenden Kassandra vor dem Tor von Mykene und
zwar
offensichtlich mit einer so starken Intensität der
„Einfühlung“, dass sie sich gerade
„noch zusehen [kann], wie ein panisches Entzücken sich in mir
ausbreitete, wie
es anstieg und seinen Höhepunkt erreichte, als eine Stimme
einsetzte: »Oh! Oh!
Ach! / Apollon! Apollon!«. Kassandra. Ich sah sie gleich.“ Eine
scheinbar mystische
„Erfahrung“ der Autorin: „Der Zauber wirkte sofort. […] Dreitausend
Jahre –
weggeschmolzen.“ (V 13f.) Das ist die Initialzündung zum Schreiben
der Erzählung
„Kassandra“!
Das
Programm, das sich aufgrund dieser unmittelbaren Begegnung zwischen der
Schriftstellerin
der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und der 3.000 Jahre ‚jüngeren’
troischen
Seherin herauskristallisiert, heißt dann: „den Mythos lesen
lernen“ als
„Abenteuer eigner Art“. Diese „Kunst“ setzt – Christa Wolfs Darstellung
nach – „eine
allmähliche eigne Verwandlung“ voraus, eine Bereitschaft zur
„Hingabe“ „an
einen anderen Inhalt des Begriffs »Wirklichkeit«“.
(V 72f.) Dem Mythos ist eine andere Art der Wahrheit eigen als dem
Logos, die
eine konkurriert aber nicht mit der anderen. Die Wahrheit des Mythos,
der
Mythen, liegt in den „untilgbaren Bildern“, die „unausschöpfbar
[sind] in ihrem
Wirklichkeitskern und in ihrer Vieldeutigkeit“ (V 72f.), sie kennen
nicht das
rationale Entweder-Oder des zu verstehenden oder nicht zu verstehenden
Sinns,
notwendig ist – Imaginationsfähigkeit, eine vielleicht poetisch zu
nennende Sensibilität
für archaische, archetypische Bilder und Muster.
So versteht Christa Wolf
auch den Kassandra-Mythos, den sie
der antiken Überlieferung entnimmt. Sie wandelt ihn zu einer
längeren Erzählung
um, indem sie ihn (1) historisiert. „Mein Anliegen bei der
Kassandra-Figur
[schreibt sie am 29. April 1981 in ihr Metelner Tagebuch (V 140)]: Rückführung aus dem Mythos in die (gedachten)
sozialen und historischen Koordinaten.“ Die „Kunst“, den Mythos zu
lesen,
bedeutet dann aber entscheidend, ihn (2) zu „psychologisieren“ (V
131f.), sich
in die Figuren tief „einzufühlen“ und sie lebendig werden zu
lassen. Die
Autorin beruft sich in diesem Zusammenhang in ihren Frankfurter
Poetik-Vorlesungen
auf den Briefwechsel zwischen dem Altertumsforscher Karl Kerényi
und Thomas
Mann als Autor des Joseph-Romans. Von der Kombination von Mythos und
Psychologie
versprechen sich beide, die „»tiefere seelische
Realität« hinter dem Mythos“
offenlegen zu können. Da geht es dann (3) um „das Humane“ (V 124
f.) – ich
komme gleich darauf zu sprechen.
Ihre Mythos-Konzeption
hat Christa
Wolf vielleicht am präzisesten in einem Vortrag im Jahr 1997 mit
dem Titel „Von
Kassandra zu Medea“ (a.a.O. S. 14f.) beschrieben:
„In diesem
Sinne, als Modell, das (a) offen genug ist, um eigene Erfahrung aus der
Gegenwart aufzunehmen, das (b) einen Abstand ermöglicht, den sonst
oft nur die
Zeit bringt, (c) dessen Erzählungen fast märchenhaft, sehr
reizvoll und doch (d)
so wirklichkeitsgesättigt sind, daß wir Heutige uns in den
Verhaltensweisen
seiner handelnden Personen erkennen können – in diesem Sinne
scheint mir der
Mythos brauchbar zu sein für den heutigen Erzähler, die
heutige Erzählerin. Er
kann uns helfen, (e) uns in unserer Zeit neu zu sehen, er hebt
Züge hervor, die
wir nicht bemerken wollen und (f) enthebt uns der
Alltagstrivialität. (g) Er
erzwingt auf besondere Weise die Frage nach dem Humanum, um die es ja,
glaube
ich, bei allem Erzählen geht.“
7)
Das „Humanum“ – das
„lächelnde
Lebendige“ – „Einfühlung“: Empathie, Liebe, Schmerz
Was ist
mit diesem „Humanum“ gemeint? „Es ist das andere, das [die Griechen]
zwischen
ihren scharfen Unterscheidungen zerquetschen, das Dritte, das es nach
ihrer
Meinung überhaupt nicht gibt, das lächelnde Lebendige […]“.
Es ist wohl das,
was Anchises meint, wenn er den Griechen die „Gabe der Einfühlung“
anempfiehlt.
Ich habe das Wort „Einfühlung“ schon einmal gebraucht als Begriff
für die dem
Mythos adäquate Erkenntnisfähigkeit. „Einfühlung“
bedeutet aber auch – Empathie:
Sympathie für alles Lebendige, „lächelnde“, also heitere
Offenheit, aktive
Sensibilität für die anderen, friedliche
Versöhnungsbereitschaft. Kassandra nennt
es auch „das namenlose Weiche, das den Mensch zum
Menschen macht“ und spricht von
„jener Stelle“ im Körper, „aus der Schmerz, Liebe, Leben,
Träume kommen können“ (K
135). Auch der Schmerz also, nicht nur
das Lächeln gehört zu dieser humanen Empathie, die das
Geheimnis ihrer
Identität ausmacht. Ihre Erinnerung an alle die Menschen, die auf
die eine oder
andere Weise Opfer des Kriegs geworden sind, bedeutet für
Kassandra vor Mykene
immer wieder eine neue „Schmerzprobe“ (K 8). Andererseits wohnt dem
Schmerz
eine besondere Souveränität inne, er gilt nicht nur als
Erleiden, sondern auch
als lebendige Kraft. Schmerz empfinden ist letztlich identisch mit der
„Liebe“
zum „Leben“ in einer Welt, in der Entsetzliches geschehen ist und
geschieht. So
kann sich auch die Autorin fragen: „Besteht ihre [Kassandras]
Zeitgenossenschaft [mit mir] in der Art und Weise, wie sie mit Schmerz
umgehn
lernt? Wäre also der Schmerz – eine besondre Art von Schmerz – der
Punkt, über
den ich sie mir anverwandle [...]?“ (V 112)
Allerdings kann sich der
Empathie-Schmerz auch so sehr
steigern, dass er selbstzerstörerisch wirkt. Das zeigt sich
bereits bei dem
Kind Kassandra. Den Verlust ihres über alles geliebten
großen Bruders Aisakos
(K 52 f.) verarbeitet sie in „Krämpfen“ und „Träumen“, in
„Zucken“ der Glieder,
„immer die kalte harte Wand gegen sie [gegen die Glieder], Leben gegen
Tod“,
sodass über die nächtelang Schreiende gesagt wird, sie sei
„von Sinnen“ (K 53
f.). Ähnliches, noch intensiver, wiederholt sich nach dem zweiten
„Anfall“ vor
der Abfahrt des Dritten Schiffs. Und nach der furchtbaren
Schändung der Leiche
Penthesileas durch „Achill das Vieh“ läuft Kassandra Gefahr, sich
dem Zug der zur
Rache bereiten Amazonen anzuschließen, der diese zum U-Topos, „zu
keinem Ort,
den es auf Erden gibt“, führen wird: zum endgültigen
„Wahnsinn“ (K 143). Sie
lässt sich anstecken von deren liebes-todes-süchtigem
Tanzrhythmus, bereit, „nun,
da nichts mehr helfen konnte, alles, auch mich selber aufzugeben und
aus der
Zeit zu gehn“. „Sollte die Wildnis wieder über uns
zusammenschlagen. Sollte das
Ungeschiedne, Ungestaltete, der Urgrund, uns verschlingen.“ (K 144)
Was hier als
das „Ungeschiedene“ bezeichnet wird, ein ‚ozeanisches’
Gemeinschaftsgefühl, eine
quasi-religiös aufgeladene Hingabe an eine totalitäre Macht,
den „Urgrund“, würde
völligen Selbstverlust bedeuten und ist offensichtlich die
Negativ-Formel, das
Gegenstück zur Positiv-Formel des „lächelnden Lebendigen“,
das Kassandra „das
Ungetrennte“ nennt. Wir haben es hier mit einem zentralen Lebensproblem
Kassandras
zu tun, dem Umkippen vom einen ins andere, von Empathie,
Einfühlung,
Solidarität, familiärer „Anhänglichkeit“, Verbundenheit
in gemeinsamen
Grundüberzeugungen zunächst in „Abhängigkeit“ und
Verlustangst – „O ja. Ich
könnte wohl Auskunft darüber geben, wie Abhängigkeit und
Angst entstehen“ (K
45) – und dann mehr und mehr in Selbstfremdheit,
Selbstaufgabe, Selbstzerstörung.
Das ist z.B. die Geschichte
Kassandras, sofern sie mit den Namen „Priamos, Aisakos, Aineias, Paris“
verbunden ist. Diese vier Namen weisen, wie sie sagt, eine
„merkwürdige
Ähnlichkeit der Spuren“ auf trotz „verschiedenster Erinnerungen“
(K 54): Immer
wieder nämlich, im Zusammenhang mit dem geliebten Vater Priamos,
dem früh
verlorenen Bruder Aisakos, dem spät wiedergefundenen Bruder Paris,
dem über
alles geliebten, aber immer wieder entbehrten Aineias, geschieht ihr,
was sie
rückblickend auf Paris bezieht: „Mein ganzes Wesen kam ihm
entgegen“, „sehr
nah, wieder einmal [!] allzu nah“ geht ihr die Beziehung (K 54f.). Und
jedesmal
ist der Eros – wie es in dem der Erzählung vorangestellten Motto
der Sappho
heißt – „bittersüß“: jedesmal –
„schon wieder“, „wieder einmal“ – muss sie erleben, wie gerade seine
„gliederlösende“, befreiende Kraft und die damit verbundene
Hingabe in
Abhängigkeiten führen, in Verlustängste und
Selbstverlust.
8)
Der „blinde Fleck“ – „das
Bild von
sich ändern“
Das
„Dritte“, das die Griechen „zwischen ihren scharfen Unterscheidungen
zerquetschen“ [sagt Kassandra], ist das „lächelnde Lebendige“
und sie definiert es als – die Kraft, die Instanz, das
Prinzip, „das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst
hervorzubringen“.
Was meint diese Definition – außer dass hier auf bestimmte
matriarchalische
Kulte angespielt wird? An zwei anderen Stelle gibt Kassandra eine
Antwort,
indem sie zum einen definiert, was sie unter „lebendig“ versteht: „Was
nenne
ich lebendig. Das schwierigste nicht scheuen, das Bild von sich selbst
ändern.“
(K 26) Und an einer anderen Stelle definiert sie, was es für sie
bedeutet, sich
selbst zu sehen, ein Bild von sich zu haben: „Wer lebt, wird sehn.“ (K
43) Das
heißt, zusammengenommen: Wer in der
Weise „lebendig“ ist, „das Bild von sich zu ändern“, lebenslang
oder an einem
entscheidenden Wendepunkt des Lebens schonungslos die inneren
Widersprüche in
sich selbst aufzudecken, „Selbsterforschung“ zu betreiben, bereit auch,
den
Glauben an die Götter, die
Ideologie, die dem Leben
bisher Halt verliehen hat, aufzugeben
(K 117) – der „wird sehn“: er sieht sich
selbst und sieht die Wirklichkeit. Selbsterkenntnis
und Wirklichkeitserkenntnis ist ein
Vorgang, denn – wie Christa Wolf in einem Interview sagt – „die Wirklichkeit [ist] ja nicht
ein Gebilde
außerhalb von uns […], sondern ein Prozeß, dem wir
unterliegen und den wir zugleich selbst mit
hervorbringen“ (Gespräche mit B. Zimmermann/U. Fröhlich,
C.W., Werke Bd. 8, S.
370f.) So ist der gesamte
Erinnerungsmonolog
der Kassandra nichts anderes als der bis zum Ende nicht abgeschlossene,
im
ersten Teil durchaus chaotisch verlaufende Versuch der kritischen
Selbsterforschung
und Analyse der troischen Wirklichkeit, des schonungslosen Aufarbeitens
der
eigenen Biografie. Kassandra muss sich eingestehen: „Ich wollte
die Welt
nicht, wie sie war, aber hingebungsvoll wollte ich den Göttern
dienen, die sie
beherrschten: Es war ein Widerspruch in meinem Wunsch. Ich gönnte
mir Zeit, ehe
ich ihn bemerkte, immer habe ich mir diese Zeiten von Teilblindheit
gegönnt.
Auf einmal sehend werden – das hätte mich zerstört.“ (K 49) Ein unvoreingenommener Blick
hätte die troischen
Kriegsvorbereitungen, den „Vorkrieg“, und die eigene Beteiligung daran
offenbart. Aber Sehendwerden hätte ein „Erschrecken“ bedeutet.
Was
geschieht stattdessen? „Ameisengleich gehen wir in jedes Feuer. Jedes
Wasser.
Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu müssen. Uns.“ (K 52)
Aber
Kassandra verfügt doch über die „Sehergabe“? Es zeigt sich
jedoch: Mit ihr
vermag sie weder sich selbst noch die umgebende Welt zu durchschauen.
„Ich sah
nichts. Mit der Sehergabe überfordert, war ich blind. Sah nur, was
da war, so
gut wie nichts.“ (K 34) Christa Wolf gebraucht immer wieder, gerade
auch in ihren
Interviews zu „Kassandra“, das Bild vom „blinden Fleck“. „Jeder Mensch
erfährt […,]
daß er in jedem Stadium seines Lebens einen blinden Fleck hat.
Etwas, was er
nicht sieht“, weil es ihm zu nahe ist, weil es ihm durch
„Sozialisierung und
Erziehung“ selbstverständlich geworden ist. „Du meinst“, fragt
Kassandra
Arisbe, die weise Frau am Skamander, „du meinst, […] der Mensch kann
sich selbst
nicht sehen?“ Und Arisbes Antwort lautet: „So ist es. Er erträgt
es nicht. Er
braucht das fremde Abbild“ (K 147) – die Projektion, das fremde, den
Menschen
von seinem eigentlichen Sein entfremdende Wunsch- und göttliche
bzw.
ideologische Idealbild. „Und so hat auch eine Gesellschaft oder eine
Zivilisation einen blinden Fleck“, ihr kollektives Wunsch- und
Idealbild, eben ihre
Ideologie, der gegenüber sich kritisch zu verhalten den
Anhängern sehr schwer
fällt oder gar unmöglich ist („Ein Gespräch über
»Kassandra«“, Werke, Bd. 8, S.
341), die Griechen haben ihr stures Entweder-Oder-Prinzip „Sieg oder
Untergang“, die Troer die Vorstellung, sie seien dazu ausersehen, „das
Goldene
Zeitalter wieder herauf[zu]führen“ (K 45) – unsere Welt bis vor
kurzem vielleicht
die Idee der prinzipiell unbegrenzt möglichen Gewinnsteigerung.
Kassandra
braucht mehrere Stufen ihrer Entwicklung bis zu dem Punkt, an dem
Selbsterkenntnis und Durchschauen der troischen Wirklichkeit ‚reif‘
sind. Sogar
noch, nachdem sie abgerechnet hat mit „Hekabe. Priamos. Panthoos. So
viele
Namen für Täuschung. Für Zurücksetzung. Verkennung.
Wie ich sie haßte. Wie ich
es ihnen zeigen wollte“ (K 75) – dennoch verharrt sie noch immer wenn
nicht in
„Übereinstimmung mit den Herrschenden“,
dann in „Anhänglichkeit“ an Troia und die Troer (K 76/65), ihre
Landsleute, mit
denen sie die Wunsch-Gewissheit teilt „Wir gewinnen“ (K 84) – bis dann
am
ersten Tag des Kriegs ihr Bruder Troilos von Achill brutal misshandelt
und
umgebracht wird. Da setzt sie es durch, im troischen Rat gehört zu
werden:
„Verlangte, diesen Krieg zu endigen, sofort.“ (K 90) Priamos, der
Vater, lässt
sie hinauswerfen. Erst jetzt sieht Kassandra
nicht nur, wie die Dinge stehen, sie handelt
zum ersten Mal entsprechend ihrer Einsicht. Ein zweites, ein drittes
Mal wendet
sie sich an den Vater, den König, der den Krieg noch verhindern
könnte. Beim
dritten Mal, als es um das Opfer ihrer Schwester Polyxena geht, wird
sie nach
ihrem dreimaligen „Nein“ nicht nur hinausgeworfen, sondern wegen
„Feindbegünstigung“ in einem finsteren Verlies für lange Zeit
‚kaltgestellt‘. Erst
hier erlebt sie in „einem Schmerz, der nicht mehr weh tut, weil er
alles ist“,
den endgültigen „Verlust all dessen, was ich »Vater«
nannte“ (K 153) – „Vater“
persönlich, menschlich, politisch, kulturell, weltanschaulich.
Das ist vergleichbar
mit der Situation der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf in den Jahren
nach 1976,
nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR und den
unterschiedlichen
Strafmaßnahmen der DDR-Führung gegenüber den
ostdeutschen Schriftsteller-Kollegen wie Christa Wolf, die sich dazu in
West-Medien unüberhörbar kritisch geäußert haben.
Eigentlich hat die Autorin
spätestens zu diesem Zeitpunkt ihre ursprüngliche
„Übereinstimmung mit den
Herrschenden“ und wohl auch den „Glauben“ an die offizielle Ideologie
überwunden, aber es bleibt die „Anhänglichkeit“ – ein für sie wichtiges Wort! – gegenüber
den Menschen in der
DDR, ihren Lesern, zu denen ein lebendiger Kontakt existiert. Sie
lässt sich
persönlich, nach einem Protestbrief, zum Staatsratsvorsitzenden
Erich Honecker
einladen, setzt sich dort im Gespräch u.a. für junge
Schriftsteller-Kollegen
ein. Als sie – dem Verlust ihres „Glaubens“ entsprechend – ihren Wunsch
äußert,
aus der Partei auszutreten, deren Mitglied sie zu diesem Zeitpunkt noch
ist,
wird ihr vom Staatsratsvorsitzenden in familiärem Ton gesagt:
„Bleib doch, wir
wissen ja, es ist eine schwierige Zeit, aber da müssen wir durch.“
(So
jedenfalls lässt sich’s in der Wolf-Biografie von Jörg
Magenau nachlesen. S.
289 f.) Gedacht hat er sicherlich das Gleiche wie Priamos: „Wer jetzt
nicht zu
uns hält, arbeitet gegen uns.“ (K 85) Auch Christa Wolf findet,
ähnlich
Kassandra, kein Gehör beim „Vater“ ihres Staates, allerdings wird
sie nicht ins
Gefängnis geworfen. – Das mussten damals andere DDR-Oppositionelle
erleiden.
9)
„Lust, zu sehen“: „Neugier - Gier
nach Erkenntnis - Zeuge
sein“
Zurück zu
Kassandra: Eigentlich besitzt sie seit ihrer Kindheit die
Voraussetzungen, sich
selbst und die Wirklichkeit kritisch zu sehen, und zwar auf der Basis
des ihr
eigenen, von Anfang an deutlich ausgeprägten Mutes zum Widerstand.
Mit
„grauenvoller Scham“ (K 21) reagiert sie auf die Erfahrung, im
Entjungferungsritus „im Tempelbezirk der Athene“ wie die anderen jungen
troischen Frauen zum Sexualobjekt der Männer gemacht zu werden,
mit der
Selbstverständlichkeit und Unentrinnbarkeit der Tradition. Im
lebensentscheidenden
Apollon-Traum verweigert sie sich mit großer Sicherheit
gegenüber der kultischen
Norm der sexuellen Hingabe an den Staatsgott – „das Opfer, das seiner
Opfer-Funktion innewird und den Dienst im Ritual verweigert“ (V 190).
Die junge
Kassandra durchschaut nicht nur instinktiv, was außer ihr in
ihrer Zeit niemand
sieht – und auch Jahrtausende später kaum gesehen hat –, die
Opferrolle der
Frau. Sie verfügt darüberhinaus von klein auf über eine
„Gier nach Erkenntnis“
(K 76), „Gier, „alles heraus[zu]finden“ (K 56), wenn es drauf ankommt –
wie zu
dem Zeitpunkt, als sich nach dem Wiederauftauchen des Paris
plötzlich ein
abgrundtiefes Geheimnis im Zusammenhang mit dessen Geburt andeutet und
sie mit
großem Eifer durch kritisches Recherchieren die Wahrheit
herauszubekommen
versucht. Im Grunde ist es „Neugier“, zu sehen, die Fähigkeit und
Bereitschaft,
„einfach hinzuschauen“, nicht Geniales – denken Sie an den
Wirtschaftswissenschaftler zu Anfang –, „Neugier“, durch die Kassandra
sich von
den anderen unterscheidet, die nicht einmal die Dinge wahrnehmen, die
„sich vor
ihren Augen abspielen“, wie sie sagt (K 11). Allerdings erfährt
auch sie solche
Neugier als „gänzlich frei“ und unvoreingenommen erst in der
Situation der
unausweichlichen Todesdrohung (K 11) und erst dann weiß sie auch,
dass die
Energie, die sie wohl immer vor Verzweiflung bewahrt und am Leben
erhalten hat,
die „Lust“ zu sehen gewesen ist: „denn ich zog Lust aus allem, was ich
sah –
Lust; Hoffnung nicht! – und lebte weiter, um zu sehn“ (K 6).
Also
ein lustvolles, neugieriges, aufmerksames Sehen, das sich erst im
Lauf der Zeit mühsam gegenüber dem staatlich verordneten, mit
ideologischen
Erwartungen verbundenen „Sehergabe“-Sehen der offiziellen „Seherin“
durchsetzen
kann. „Warum wollte ich [denn überhaupt] die Sehergabe
unbedingt?“, fragt
Kassandra insgesamt dreimal. Gleich beim ersten Mal nennt sie in der
Antwort den
tiefsten Grund für ihren Wunsch, auf besondere Weise
sehen/erkennen zu wollen, und
verrät darin ihre persönlichste Motivation: „Mit meiner
Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres
hab
ich nicht gewollt.“ (K 6) Sehen als Voraussetzung des Sprechens.
Und dann: „Ich will Zeugin bleiben, auch wenn es keinen
einzigen Menschen mehr geben wird, der mir mein Zeugnis abverlangt.“ (K
28)
Sehen + Sprechen = „Zeugin sein und Zeugnis ablegen“.
Christa
Wolf sagt 1983 in einem Interview zu „Kassandra“: „Immer mehr wurde ich mir
[bei der
Beschäftigung mit Kassandra] darüber klar, daß mein
Hauptantrieb für Schreiben
Selbsterforschung ist: Immer dann, wenn ich über mein
Verhältnis zu meiner
Zeit, zu ihren Strömungen, Institutionen, zu Zeitgenossen, zu mir
selbst
schreibend etwas herausfand, was ich vorher nicht gewußt hatte
oder jedenfalls
nicht hatte aussprechen können – immer dann stellte sich jener
besondere
Zustand der Erregung, jenes Gefühl von Authentizität ein, um
dessentwillen ich
eigentlich schreibe.“ (Gespräch mit B. Zimmermann/U.
Fröhlich, a.a.O., S. 370f.)
Und der
zentrale Satz, der in der
Frankfurter
Arbeitsfassung sogar der erste Satz der Erzählung ist, kann auch so gelesen werden: „Mit meiner Stimme
sprechen: das Äußerste.“ Es
geht um Autonomie, in eins mit sozialem Tun – mit meiner eigenen,
authentischen
Stimme an die Öffentlichkeit treten. Christa Wolf bezeichnet in
den Frankfurter
Vorlesungen Kassandras „innere Geschichte“ als „das Ringen um
Autonomie“ (V
149). In ihrer Palastwelt hat Kassandra nie eine echte Chance gehabt,
mit ihrer
eigenen Stimme zu sprechen, und als sie dreimal in entscheidenden
Augenblicken
dennoch versucht hat, ihre Verantwortung wahrzunehmen, war da eine
„fremde
Stimme“ zu hören, die von niemandem, auch nicht von ihr selbst
akzeptiert wurde
und die sie deshalb in einem äußersten Zustand der
„Selbstfremdheit“ unterdrückte.
Mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen, kann ihr erst gelingen, nachdem
sie
radikal mit dem Vater und seiner Welt gebrochen und dann
– entscheidend! – nicht-entfremdet gelebt hat, bei den
Frauen am Skamander-Fluss. „Da, endlich, hatte
ich mein »Wir«“ (K 147), Menschen,
die sie zu sich selbst kommen lassen, und es ist nicht
nebensächlich, dass es Frauen sind. „Das
Glück, ich
selbst zu werden und dadurch den andern nützlicher – ich hab es
noch erlebt.“
(K 16)
Auf
das Glück im „Zeitenloch“ am
Skamander folgt die Katastrophe, die Zerstörung Troias, der Tod
der meisten
Menschen, mit denen Kassandra zusammengelebt hat. Auf dem Wagen vor dem
mykenischen Löwentor wartet sie auf den sicheren Tod von der Hand
der
Klytaimnestra. „Mit der Erzählung geh ich in den Tod“ – der erste
Satz der
Protagonistin und Ich-Erzählerin, im Anschluss an die einleitenden
Sätze des außerhalb
der Handlung stehenden Erzählers. Der Leser trifft hier auf
die Haltung der Autorin Christa
Wolf, der „die Schreibmotivation [verfällt]“ (V 122 f.) angesichts
der
„rasenden Eile“ der Raketenproduktion in Ost und West und die dennoch
oder
gerade deshalb die Erzählung „Kassandra“ schreibt und in Frankfurt
die
„Kassandra“-Poetik-Vorlesungen hält. Sehen also, um das Gesehene
bis zum
letzten Augenblick zu bezeugen, um darüber für andere zu
schreiben oder zu
ihnen zu sprechen, in aller Öffentlichkeit, und sie dadurch
vielleicht doch vor
unabsehbaren selbstzerstörerischen Entwicklungen zu warnen, auch
und gerade
dann noch, wenn das Zeugnis aller Wahrscheinlichkeit nach wirkungslos
sein wird
– das ist auch die paradoxe Dennoch-Motivation Kassandras, in
völliger
Einsamkeit und Zukunftslosigkeit vor „dem fremden Volk“ der Mykener zu
sprechen
(K 6), die gar nicht zuhören oder nichts verstehen können –
vielleicht kann
aber der Wagenlenker eine Botschaft weitergeben (K 138 f.), von dem
hören es
andere und noch andere, vielleicht Generationen später ein
Dichter, der ein
Theaterstück schreibt, das wiederum Generationen später eine
Schriftstellerin
liest, die plötzlich eine Stimme hört
und dann – sieht: „Kassandra. Ich sah
sie gleich. Sie, die Gefangene, nahm mich gefangen […]. Der Zauber
wirkte
sofort.“ (V 13 f.) Ja, und das liest dann ein Leser, eine Leserin,
schließlich
zwei ganze Abiturjahrgänge in Nordrhein-Westfalen. Wirkt der
Zauber Kassandras?
Auch 2009, 2010?
Der Text entspricht
den am 27.01., 11.02.2009 und 30.11.2009 von der
Deutsch-Griechischen Gesellschaft
Düsseldorf veranstalteten Vorträgen in der vhs
Düsseldorf.
Die Textstellen aus Christa Wolf, Kassandra
und Christa Wolf, Voraussetzungen einer
Erzählung: Kassandra werden zitiert nach den Ausgaben
im
Luchterhand Literaturverlag 2000/2004.
K 15 =
„Kassandra“ S. 15
V 15 =
„Voraussetzungen…“ S. 15
© Dieter Schrey 2009