Conrad Ferdinand Meyer
Der römische Brunnen (7. Fassung, 1882)
Aufsteigt der Strahl, und fallend
gießt
er voll der Marmorschale Rund,
die, sich verschleiernd, überfließt
in einer zweiten Schale Grund;
die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.
Interpretation
Das Gedicht bietet in den drei parallelen
Verspaaren zugleich eine präzise Deskription und eine poetische
Abbildung der auf den drei "Ebenen" des Brunnens gleichzeitig
ablaufenden Vorgänge, die ein Ganzes ausmachen, das mit dem
aufsteigenden "Strahl" (V. 1) anhebt und sich zuletzt als "Flut" zeigt
(V..6). Die Korrespondenz der drei beschriebenen Marmorschalen des
Brunnens, mit ihrem jeweiligen Doppelcharakter des Empfangens und
Weitergebens, und der drei beschreibenden Verspaare des Gedichts, die
mit klanglichen und rhythmischen Mitteln, v. a. am Versbeginn und am
Versende, das Aufsteigen, Fallen und Überfließen abbilden,
ist unübersehbar - unüberhörbar. Vers 7 fasst zusammen,
worum es sich handelt: um die Simultaneität eines "Nehmens" und
"Gebens" der drei Marmorschalen. Diese erscheinen ebenso wie der
"Strahl" personifiziert: sie agieren ("aufsteigt", "gießt",
"gibt") und reagieren ("fallend", "sich verschleiernd", "wird zu
reich"). Außer in den Rahmen-Wörtern "Strahl" und "Flut"
wird das eigentliche Objekt des Gebens und Nehmens, das profane
Brunnenwasser also, nicht erwähnt, es geht völlig auf in dem
als lebendig aufgefassten Vorgang des Fallens und Wallens, des
Vollgießens und Überfließens. In diesem Vorgang sind
die "Marmorschalen" und "ihre (!) Flut" eins, sie geben sich selbst und
empfangen sich selbst, sodass der ganze Vorgang nicht nur als in der
zeitlichen Sukzession verlaufendes "Strömen", sondern auch
oder letztlich als "Ruhen", in einem harmonischen Gleichgewicht, ohne
Ursache und Wirkung, ohne Vorher und Nachher, gesehen werden kann (V.
8).
Der erste Satz fällt aus dem Rahmen,
sowohl inhaltlich - nur hier ist von einer aufsteigenden, initiierenden
Bewegung die Rede - als auch rhythmisch, durch den angehobenen Auftakt
("Aùf-/stéigt"). Die folgenden 7 1/2 Verse tun jedoch
alles, um an die Stelle eines zeitlichen Ablaufs zwischen einem Anfang
und einem Ende die Gleichförmigkeit und Ruhe der ewigen Wiederkehr
treten zu lassen, nicht nur inhaltlich, sondern auch rhythmisch: Das
alternierende Versmaß wird durch die Versgrenzen nicht
unterbrochen (nur zu Beginn von V. 3 gibt es noch eine leichte
rhythmische Verzögerung), das "und...und...und...und" der zwei
letzten Verse deutet an, dass das strömende Ruhen und ruhende
Strömen ununterbrochen weitergehen wird.
Allerdings hat das Gedicht dann doch -
parallel zum akzentuierten Beginn - ein deutlich markiertes Ende. Es
hört auf mit einer Unterbrechung des vorher erzeugten
metrisch-rhythmischen Gleichmaßes: im letzten Vers fehlen zwei
Takte. Zwei Lesarten sind möglich: Wenn die Sprechpause, die die
Lücke ausfüllt, nach dem 2. oder 3. Takt angesetzt wird,
endet das Gedicht
- mit dem Reim ("ruht") parallel zum
3./4. Takt und Reim von V. 6 ("Flut")
- im ruhigen Gleichmaß und Gleichklang der vorherigen Verse.
Gerade die Pause mag dann den Fortgang
ins Unendliche andeuten. Das setzt allerdings voraus, dass - auf der
inhaltlichen Ebene - das letzte Wort des Gedichts ("ruht") nur das
In-sich-selbst-Ruhen eines ewigen "Zugleich" meint, nicht aber (auch)
das "Ruhen" nach Beendigung des "Strömens".
Diese zweite Interpretation des "Ruhens"
und damit auch die zweite Lesart der Pause im 2. und 3. Takt des Verses
- als ein durch das Abbrechen des Sprechens/Lesens nach dem 1. Takt
plötzlich auftretendes, unausgefüllt bleibendes Vakuum -
lässt das Gedicht im Nichts enden, wie es mit dem ersten Wort aus
dem Nichts heraus "aufgestiegen" ist.
Sind nicht beide Interpretationen und
Lesarten miteinander sinnvoll? In welchem Verhältnis zueinander
stehen dann die "Ruhe" eines ewigen natürlichen Gleichgewichts und
die "Ruhe" des "Nichtmehr"? Das Gedicht scheint den im ewigen
"Strömen und Ruhen" befindlichen Naturvorgang, der sich im
"römischen Brunnen" abspielt, in "Nature morte" verwandelt zu
haben. Versteckt sich hinter dem paradoxen Zugleich von Strömen
und Ruhen, das das Leben ausmacht, das noch paradoxere Zugleich von
Leben und Tod? Und macht das Gedicht, als Kunstwerk, damit
möglicherweise etwas kenntlich, was sonst verborgen bleiben
würde?
SchülerInnen werden im Unterricht
nicht unbedingt zu den letztgenannten Fragen vorstoßen. Sie
sollten zunächst möglichst genau das technische Funktionieren
dieses Brunnens beschreiben, der zwar noch von keinem Motor betrieben
wird, aber als Springbrunnen ein charakteristisches Produkt und
Instrument der neuzeitlich-mechanischen Technik ist. Er vermag den
Eindruck eines Perpetuum mobile zu vermitteln, dem das Produziertsein
und In-Gang-Gesetztsein durch den Menschen nicht mehr anzumerken
ist. Auch im Gedicht ist nicht von dem produzierenden und die
Mechanik in Gang setzenden Menschen die Rede. Nur ein Betrachter, der
nicht nach Ursache und Wirkung fragt, sondern ausschließlich
"schaut", sieht den römischen Brunnen (vielleicht) so, wie er im
Gedicht dargestellt erscheint. Aber im Gedicht wird - auch für die
SchülerInnen erkennbar - nicht nur der produzierende und
initiierende, sondern auch der betrachtende Mensch verschwiegen - und
das in den letzten Jahrzehnten eines Jahrhunderts, das von dem
Siegeszug des mechanistischen Denkens und Handelns bestimmt ist. Wie
ist dieser Sachverhalt zu beurteilen? Darüber können sich
wohl auch SchülerInnen (zunächst vermutend) äußern.
Dass die dingliche Korrespondenz zwischen
dem römischen Brunnen und dem Gedicht "Der römische Brunnen"
keine bloße Spielerei ist, sondern etwas "bedeutet", und dass
diese "Bedeutung" mit dem Sinn der zwei letzten, interpretierenden
Verse des Gedichts zusammenhängt, ist den Schülern deutlich.
Um welche "Bedeutung(en)" es sich handelt, darüber sollten sie
ungeniert ihre eigenen Vermutungen anstellen können:
1. Was ist mit der Gleichzeitigkeit von
"Nehmen und Geben" gemeint?
2. Was mit dem Ineinander von
"Strömen und Ruhen"?
3. Was für eine "Ruhe" ist gemeint,
und wie ist im Zusammenhang damit das Fehlen der zwei Hebungen/Takte im
Schlussvers zu deuten?
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© Dieter Schrey 1993/2006
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