Die Dominanz der visuellen Medien in der
modernen Industriegesellschaft gegenüber dem auf der Basis der
"litterae" aufgebauten Medium Buch ist wohl eine Tatsache. Der
Literaturunterricht versucht allerdings immer wieder, die traditionelle
gesellschaftliche Dominanz des Schrift-Mediums zu behaupten. Das
bedeutet z.B. für die Beschäftigung mit Literaturverfilmungen
im Unterricht, dass der literarische Text als das "Eigentliche"
angesehen und die Verfilmung zur zusätzlichen oder aber -
angesichts der Schwierigkeiten im Umgang mit den "litterae" - zur
grundlegenden Motivation, als "Flaschenzug" sozusagen (I.
Degenhardt), herangezogen wird. An die Stelle eines solchen
Dominanz-Denkens sollten Versuche treten, die unterschiedlichen Medien
zueinander in Beziehung zu setzen, also z.B. die
"Übersetzung" einer Erzählung vom Buch in den Film genau
nachzuvollziehen. Dabei wird die Komplexität sowohl der
schriftlich wie auch der kinematographisch konstruierten Zeichensysteme
nur dann berücksichtigt, wenn die Erzählung nicht auf den
kleinsten, beiden Medien gemeinsamen Nenner gebracht wird, also auf das
Erzählte, die "Geschichte", sondern wenn sich die Aufmerksamkeit
auf alle Ebenen der Texte gleichermaßen richtet, auf das
Erzählte, auf das Medienspezifische und auf das jeweilige
Zeichenmaterial, wie es sich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet.
Eine solche Zielsetzung für den
Umgang mit Literaturverfilmungen ist nur dann zu anspruchsvoll für
Schüler der S II und vielleicht der Klassen 9/10 oder S I, wenn in
den Jahren der S I keine Voraussetzungen für einen
sachverständigen Umgang mit Filmen geschaffen worden sind -
für den Umgang mit Literatur ist er uns ja mittlerweile
selbstverständlich. Zwar kann im Fernsehzeitalter die Rede vom
Bild- oder Film-Analphabetismus mit Recht zurückgewiesen
werden, aber eine passive Alphabetisierung ist noch keine aktive,
entautomatisierte - eine solche aber wäre nicht nur für die
selbstständige Verwendung der "Filmsprache" beim Filmemachen,
sondern auch schon für eine bewusste Rezeption und für die
Analyse unabdingbar.
Das Unternehmen, Literaturverfilmungen
als Ergebnisse der Transformation literarischer Texte im Unterricht zu
behandeln, trifft sich mit dem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz.
Der Lehrer stellt sich und die Schüler in den geschichtlichen
Prozess der literarischen Kommunikation, in dem ständig Lesen in
Reden, dieses Reden in neues Schreiben oder auch gleich Lesen in
Schreiben transformiert wird, Text aus Text entsteht ("Lesen" und
"Schreiben" auf wortsprachliche und filmische Texte bezogen). Der
rezeptionsgeschichtliche Ansatz wird durch das Ernstnehmen der Frage
nach den Transformationsverfahren auf allen Ebenen der Texte
ergänzt.
Wenn es darum geht, die Schüler
instandzusetzen, in mehreren Zeichensystemen kompetent am Prozess der
literarischen Kommunikation teilzunehmen - nicht auf dem
"Höhenkamm", aber auch nicht in den "Niederungen" -, dann kann
nicht die Analyse das eigentliche Ziel des Unterrichts sein, sondern
die je eigene Transformation in Form von Texten im Sinne eines
produktionsorientierten Literaturunterrichts: in Form von literarischen
Rollenspielen, von Transkripten, Drehbuch-Simulationen, fotografiertem
szenischem Spiel. Schnitt-Zusammenstellungen bestimmter Sequenzen der
Verfilmung (unter Nutzung der heute gegebenen digitalen
Möglichkeiten), vielleicht eigenen Filmversuchen - je
nach Möglichkeit (Transformationskompetenz).
(Zur Konzeption eines handlungsorientierten Medienunterrichts s. Grafik (pdf) "Audiovisuelle Medien im
Deutschunterricht I".)
Solche Unternehmungen setzen voraus, dass
exemplarische Unterrichtseinheiten durchgeführt worden sind, in
denen sich die Schüler die notwendige Aufmerksamkeitshaltung,
Wahrnehmungsfähigkeit und den Gebrauch eines minimalen
metasprachlichen Instrumentariums angeeignet haben. Es erscheint als
wünschenswert, dass möglichst früh, also im 5. und 6.
Schuljahr (in je einer Unterrichtseinheit) eine fundamentale
Film-Sehschule realisiert wird, am Beispiel vielleicht von Jugend- oder
Chaplin-Kurzfilmen, und dass dann, im 7. und 8. Schuljahr, die
Grundproblematik der verfilmten Literatur an einem günstigen
Beispiel exemplarisch dargestellt wird.
Die folgende Analyse der Brechtschen
Kalendergeschichte Die unwürdige Greisin und ihrer
Verfilmung bezieht sich auf Materialien, die im beschriebenen Sinne als
exemplarisch gelten können und die gleichzeitig für Schulen
bzw. Schüler verfügbar sind: Die auf eine Länge von ca.
50 Minuten gekürzte FWU-Fassung des Schwarz-Weiß-Films von
René Allio Die unwürdige Greisin ("La vieille
dame indigne", 1985), von R. Allio geprüft und gebilligt, ist
über die Landes- und Kreisbildstellen auszuleihen.
Im Klett-Lesebuch
Lesezeichen 8 liegt ein
nacherzählendes und die Segmentierung des Films rekonstruierendes
Transkript der FWU-Fassung vor, ebenso Materialien zu den wichtigsten
Abschnitten des Films und zahlreiche Fotos sowie Arbeitsvorschläge
für die Schüler. Diese Arbeitsvorschläge zeigen, wie ein
Unterrichtsprojekt ablaufen kann, das sich mit der Kalendergeschichte
und ihrer Verfilmung anhand der Materialien beschäftigt.
(Zum Unterrichtskonzept im einzelnen s. Lesezeichen 8, Lehrerband: Stuttgart
(Klett) 1986, S. 139 ff. / 2000, S. 138 ff.).
(Grafik
"Literaturverfilmung")
1. Brechts Kalendergeschichte:
Das Erzählte und das Erzählen
Brechts Kalendergeschichte Die
unwürdige Greisin (1939, erstmals 1949 veröffentlicht)
erzählt von den letzten zwei Lebensjahren der "Frau B.", der
Großmutter des Ich-Erzählers: "Meine Großmutter war 72
Jahre alt, als mein Großvater starb." Die zwei Lebensjahre nach
dem Tod ihres Mannes unterscheiden sich grundlegend von ihrem
bisherigen Leben. Die Großmutter löst sich von fast allem,
was bis dahin ihr Dasein ausgemacht hat, sie gibt vor allem den
Lebensinhalt "Familie" auf und geht neue Wege, sodass sich der
Ich-Erzähler mit der ganzen Verwandtschaft fragt: "Was war in sie
gefahren?" Zum Schluss resümiert er: "Genau betrachtet lebte sie
hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und
als Mutter und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende
Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden
Mitteln." Und im letzten Satz der Kalendergeschichte heißt es:
"Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre
der Freiheit ausgekostet [man beachte: beide Phasen ihres Lebens
ausgekostet] und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten
Brosamen."
Die positive Wertung am Schluss steht im
Gegensatz zum Titel der Erzählung Die unwürdige Greisin.
In diesem Titel ist das Urteil der Repräsentanten
des ersten, des alten Lebens der Frau B. fixiert, vor allem das
Urteil des jüngsten Sohnes, der zunächst darüber
enttäuscht ist, dass seine Mutter ihn, seine Frau und die vielen
Kinder nicht zu sich in das große Haus aufnimmt, und der zum
Schluss "verzweifelt". Aus der Perspektive dieses Sohnes sieht das
Sündenregister der Großmutter so aus: im Jahr 1910 (in dem
die Geschichte spielt) Kinobesuch einer 72jährigen Frau;
regelmäßiges Essen im Gasthof; Umgang mit einem trinkenden
und dazu noch sozialdemokratischen Flickschuster; Umgang mit dem
"Küchenmädchen" eines Gasthofs, einem geistigen
"Krüppel", wie es heißt; Fahrt mit einer Bregg, einer Art
Kutsche; Besuch eines Pferderennens; einsame nächtliche
Spaziergänge; Kartenspiel und Rotwein-Trinken. Dieses Verhalten
passt nicht zu der in 72 Jahren erreichten und aufrechterhaltenen
Würde und widerspricht dem bürgerlich-kleinbürgerlichen
Normensystem und der darin fest verankerten Forderung, "Knechtschaft",
z.B. als Frau und Mutter, lebenslang zu ertragen.
Der Titel, der von Unwürde in diesem
Zusammenhang spricht, steht auch nach der Lektüre der
Kalendergeschichte noch da. Also muss der Leser nach der Lektüre
den Widerspruch zwischen dem Titel und der Schlussbemerkung des
Erzählers, der "viel Kleines, aber nichts Kleinliches", also doch
Würde in dem Gesicht der Greisin auf ihrem letzten Foto erkannt
hat, selber auflösen.
Soviel kurz über das Erzählte
und dessen Evaluation. Für die Beschreibung der Transformation zum
Film ist es v.a. wichtig, die Ebene des Erzählens genauer zu
betrachten. Die Kalendergeschichte erzählt von einer
entscheidenden Veränderung Im Leben der Protagonistin, aber nicht
der Prozess dieser Veränderung ist der Inhalt der Geschichte. Die
Erzählung beginnt, nach einer gerafften Darstellung der
Vorgeschichte, mit der Tatsache der bereits vollzogenen
Veränderung. Auf der Folie der Vorgeschichte ist die
Veränderung als solche erkennbar: "Aber die Greisin verhielt sich
abweisend zu den Vorschlägen" der verschiedenen
Familienmitglieder. Der Erzähler schildert keine allmähliche
Entwicklung und psychologisiert nicht, sondern setzt ein "Aber". Die
emanzipatorische Kraft dieser Frau - das ist ja wohl der Sinn - ist
auch nach einem 72-jährigen Leben in "Knechtschaft" noch
ungebrochen, sodass sie vom ersten Augenblick des nachlassenden Drucks
an 'voll da' sein kann.
Wenn der Erzähler zunächst
über ihre Loslösung von der Familie, dann in drei Schritten
über ihre neuen Aufenthaltsorte Kino, Schusterwerkstatt und
Gasthaus berichtet, handelt es sich nicht um Phasen eines
Entwicklungsprozesses auf der Ebene der erzählten Zeit, sondern um
Stationen des Erzählers auf der Ebene der Erzählzeit; das
Gleichzeitige wird nicht gleichzeitig erzählt. Dennoch gibt es ein
Nacheinander in der erzählten Zeit, das den Aufbau des zweiten
Abschnitts der Kalendergeschichte (zwischen Vorgeschichte und Besuch
des Erzähler-Vaters) bestimmt: Der Erzähler lässt den
Gewährsmann, von dem alle Informationen über die
Großmutter herrühren, nämlich den Buchdrucker und
jüngsten Sohn, nacheinander vier Briefe schreiben. Die
eigentlichen Ergebnisse auf der Ebene der Geschichte, in der
erzählten Welt, sind also das Schreiben und Lesen von Briefen -
nicht der Protagonistin, sondern ihrer Söhne.
Dabei bleibt es in der ganzen
Kalendergeschichte: Bis zum Resümee am Schluss hat der
Ich-Erzähler, der Enkel, seine Großmutter nie selber im
Blick, sondern nur aus der Perspektive von Gewährsleuten, die aber
andererseits kaum persönlichen Kontakt zu der Greisin haben. Erst
im fünften Abschnitt löst er sich von den fremden
Perspektiven und sagt in eigener Verantwortung "in Wirklichkeit" -
beruft sich allerdings auch hier mehrfach auf seinen Vater als
Gewährsmann. Die Indirektheit der Beziehung des Ich-Erzählers
und damit auch des Lesers zur Protagonistin ist sorgfältig
konstruiert - das ist wichtig, wenn man bedenkt, dass in der Verfilmung
der Zuschauer (wie die Kamera) die Person der Greisin unmittelbar vor
Augen hat, manchmal sogar in Großaufnahme.
Auf der Ebene der Geschichte wird also zwischen Anfang und Ende der
Erzählung zwar eine Entwicklung gezeigt, aber nicht die
Entwicklung der Hauptfigur, sondern des Erzähler-Onkels und
Briefschreibers, eine Entwicklung von anfänglicher
"Enttäuschung" bis zu "Verzweiflung" und "Hysterie". Auf diese
"Hysterie" wird nun - den zunächst uneingeschränkt geltenden
Titel widerrufend - das Werturteil "unwürdig"
zurückgeführt.
In die entgegengesetzte Richtung
verläuft der Entwicklungsprozess des Ich-Erzählers auf der
Ebene des Erzählens (auf der Ebene des Erzählten kommt er
nicht einmal als Briefempfänger vor). Er beginnt im ersten
Abschnitt, der die Exposition samt Rückblende enthält, mit
einer neutralen, unbeteiligt scheinenden Erzählhaltung. Dieser
Abschnitt endet erst mit dem Satz, in dem der Erzähler seine
spätere Erzählstrategie auf engstem Raum zusammenfasst:
"Seine [des Buchdruckers] Briefe an meinen Vater und was dieser bei
einem Besuch und nach dem Begräbnis meiner Großmutter zwei
Jahre später erfuhr, geben mir ein Bild von dem, was in diesen
zwei Jahren geschah."
Dann aber lässt sich der
Ich-Erzähler auf die Perspektive des Onkels ein, wenn auch, mit
den ersten Worten schon, leicht relativierend. Mehr und mehr gerät
er aber ins Fahrwasser des Onkels und äußert im Kommentar
Verständnis ("Man muss verstehen"), ja, er identifiziert sich mit
dessen kleinbürgerlichen Werturteilen: Es sind seine, des
Erzählers Worte, wenn es heißt, dass in der Werkstatt des
Flickschusters "nicht besonders respektable Existenzen"
("unwürdige" also!) verkehren und dass der Schuster "jedenfalls
(!) kein Verkehr für meine Großmutter war (!)".
Im dritten Abschnitt übernimmt der
Ich-Erzähler die Perspektive seines Vaters bei dessen Besuch. (Aus
dieser Figurenperspektive wird das einzige Mal in der
Kalendergeschichte szenisch erzählt, einschließlich
Dialogäußerungen.) Statt Enttäuschung oder gar schon
leichter Empörung ("Was war in sie gefahren?") lässt sich
hier humorvolles,
leicht distanziertes Geltenlassen, aber auch Verständnislosigkeit
("Aber was wollte sie?") beobachten.
Von hier aus probiert der
Ich-Erzähler im vierten Abschnitt noch einmal die Perspektive des
Briefschreiber-Onkels aus. Dessen Entwicklung in diesem Abschnitt, in
"Verzweiflung" und "Hysterie" endend, veranlasst den Ich-Erzähler
zuerst zu Relativierungen ("wie der Buchdrucker schrieb", "Meine
Großmutter schien ..."), die die Identifikation des zweiten
Abschnitts zurücknehmen, dann jedoch zu eigenständiger
"genauer
Betrachtung" der "Wirklichkeit". Damit beginnt der fünfte
Abschnitt.
Nachdem am Ende des ersten Abschnitts von
dem "Bild" die Rede ist, das dem Ich-Erzähler die ihm
zugänglichen Berichte von der Großmutter indirekt
vermitteln, steht ihm zum Schluss doch noch ein wirkliches Bild zur
Verfügung. die "Photographie, die sie auf dem Totenbett zeigt".
Was er von diesem Foto sagt - "viel Kleines, aber nichts Kleinliches" -
gibt in äußerster Verdichtung das Endergebnis eines
fünfschrittigen Erkenntnisprozesses auf der Ebene des
Erzählens wieder. Auch dem Leser ist die Möglichkeit geboten,
diesen wirklich dialektischen Prozess durchzuspielen. Der fünfte
Abschnitt bringt für den Ich-Erzähler eine qualitative
Veränderung seines Urteils über die Großmutter und
damit seines Normensystems.
Brechts Kalendergeschichte Die
unwürdige Greisin zeigt die Wandlung von zwei Personen: Der
Sohn ändert nicht sein kleinbürgerliches Normensystem, von
dem sich seine Mutter in wichtigen Punkten verabschiedet hat, er
ändert seine Einstellung seiner Mutter gegenüber und wird
darüber unglücklich und hysterisch. Der Enkel ändert
sich und seine Grundeinstellung und ist am Ende dort angelangt, wo
seine Großmutter schon zu Beginn der Geschichte steht. Das
gelingt ihm wohl deshalb, weil er. wie das indirekte Erzählen
zeigt, von Anfang an der alten Frau nicht mit Forderungen und
Ansprüchen 'auf den Leib rückt', sondern eine Distanz wahrt,
die sowohl Erkenntnis als auch Freundlichkeit zulässt.
2. René Allios Verfilmung: Das
Erzählte
Genau die Geschichte der letzten zwei
Lebensjahre dieser Frau B. versucht auch René Allio in seiner
Verfilmung der Brechtschen Kalendergeschichte zu erzählen. Er
erzählt sie in einem Film, nicht verbalsprachlich; in einem
90-minütigen (bzw. auf 50 Minuten gekürzten) Spielfilm, nicht
in einer 4-seitigen Kalendergeschichte, und - (fast)
selbstverständlich - ohne Ich-Erzähler. Mögen
Änderungen gegenüber der Kalendergeschichte auf der Ebene des
Erzählten gravierend sein - die durch das Fehlen eines
Ich-Erzählers bedingten Änderungen auf der Ebene des
Erzählens machen diese Literaturverfilmung zu einem exemplarischen
Fall für die Frage nach dem, was in der Transformation analog sein
kann.
Zunächst eine knappe Darstellung der
wichtigsten Änderungen auf der Ebene des Erzählten -
hinsichtlich Personen, Ort und Zeit.
Der Brechtsche Erzähler erzählt
aus einer 90jährigen Distanz. Der Erzähler des Films, der -
auf den ersten Blick jedenfalls - nicht explizit auftritt, bleibt mit
der erzählten Welt in seiner Gegenwart, die für uns heute
allerdings beim Zuschauen deutlich sichtbare Vergangenheit ist: Die
Handlung spielt in der Entstehungszeit des Films, also ungefähr
1966. Sie spielt nicht in der badischen Kleinstadt wie die
Kalendergeschichte, sondern in der französischen Hafenstadt
Marseille.
Wichtig ist im Zusammenhang des Orts der
Handlung: Marseille - das sind drei verschiedene Orte. Da gibt es
einerseits den alten kleinbürgerlichen Vorort L'Estaque mit seinen
verwinkelten engen Gässchen und einfachen freundlichen
Häusern - dort wohnt Frau B., die in Allios Film (doppelte Hommage
à Bertolt Brecht!) Berthe Bertini heißt. Da gibt es am
anderen Ende der Hafenstadt auch einen Vorort, einen modernen mit
hässlichen Hochhäusern und vielen Baustellen - dort lebt
Albert Bertini, der jüngere Sohn der Madame Bertini, der Im Film
nicht, wie in der Kalendergeschichte, als Buchdrucker in die
Fußstapfen des Vaters getreten ist, sondern ein kleines
Transportunternehmen führt, mit einem Lastwagen, einem Arbeiter
(seinem 20-jährigen Sohn Pierre), ohne Büro, sodass er alle
Telefongespräche in seiner Stammkneipe erledigen muss. (So
häufig wie in der Kalendergeschichte Briefe geschrieben werden,
wird im Film telefoniert.)
In beiden Vororten, im alten und im modernen, gilt das gleiche
kleinbürgerliche Normensystem: Hier muss man sich abrackern, man
darf nicht über seine Verhältnisse leben, "Leben" heißt
hier: Niederlagen einstecken. Allio macht deutlich: Überall sind
die einen von den anderen abhängig, indem sie für sie
arbeiten müssen, sowohl in der Familie wie im wirtschaftlichen
Bereich. Die Rollen sind jeweils klar festgelegt: Auf der einen Seite
müht sich der kleine Transportunternehmer Albert täglich ab,
von Privatleuten oder Unternehmern wie dem Großunternehmer
Kitzinakis neue Lieferaufträge zu bekommen - den Auftraggebern zu
"dienen". Auf der anderen Seite wird der Spieß herumgedreht: Wenn
Albert nach Hause kommt oder wenn er einmal seine Mutter besucht, ist
es selbstverständlich, dass die Frauen ihn bedienen. Und wenn sein
Sohn sein Arbeiter ist, sind die Familienbande nur die Mittel zu noch
brutalerer Unterdrückung als die, die sich der Chef und
Familienvater selbst von Mächtigeren gefallen lassen muss.
Dann gibt es in Marseille aber auch
Regionen, in denen andere Normen zu gelten scheinen, dort scheint ein
Leben in Freiheit möglich zu sein. Die City der Hafenstadt mit
ihrem bunten Leben gibt der "Greisin" auf ihren neuen Wegen die
Möglichkeit, wie ein Vogel in der Luft frei zu schweben und sich
treiben zu lassen. Da ist erlaubt, was gefällt. Der Film zeigt
dialoglose, dafür mit beschwingter Musik unterlegte Episoden
(s.u.). Das Gegenstück zu diesem beschwingten Leben in der
Öffentlichkeit sind die nächtlichen einsamen
Spaziergänge im Hafen von Marseille. In einer sehr lyrischen
Episode des Films sieht der Zuschauer, wie sehr sich Berthe frei und zu
Wind und Wellenschlag zugehörig fühlt.
Seit dem Tod ihres Mannes, mit dem die
Filmhandlung beginnt, lebt Berthe Bertini In dem geräumigen Haue
über der Druckerei ihres Mannes allein. Die Druckerei müsste
zur Abdeckung der Schulden verkauft werden. Während es in Brechts
Kalendergeschichte heißt "Die Kinder schrieben sich Briefe
über das Problem, was mit ihr [der Greisin] zu geschehen
hätte", führt der Film die Familie am Totenbett zusammen.
Das, was die Kalendergeschichte zeitraffend-zusammenfassend
erzählt, wird im Film zu einer Reihe von episodischen oder auch
breiter ausgeführten Szenen, die teils stumm verlaufen (die
Einzelnen am Totenbett), teils heftigen Familiendisput vorführen.
Albert möchte Druckerei und Haus übernehmen. Das aber traut
ihm sein älterer Bruder Gaston nicht zu, er sagt es ihm, im Verein
mit seiner intellektuell wirkenden Frau, auch sehr deutlich. Gaston,
wie der Bruder Transportunternehmer, lebt in Irgendeiner anderen Stadt.
Er hat sein Leben lang geschäftlichen Erfolg gehabt, sodass er
seinem Bruder immer wieder unter die Arme greifen konnte. Allerdings
geschah dies nicht in brüderlicher Liebe, sondern aus
Geschäftstüchtigkeit: Am Schluss des Films ist Albert dem
Bruder gegenüber so verschuldet, dass ihm gar nichts anderes
übrig bleibt, als sein Transportunternehmen von Gaston schlucken
zu lassen. Dieser Gaston ist also ein anderer Mensch als die
entsprechende Figur der Kalendergeschichte, die dort als Vater des
Ich-Erzählers eine besondere Bedeutung bekommt und vom
Erzähler gegen den immer hysterischer werdenden Onkel ausgespielt
wird. Aus einer vom Ich-Erzähler positiv gewerteten Gegenfigur zum
jüngsten Sohn der Großmutter ist Im Film eine negativ
gezeichnete Gegenfigur geworden.
Der vom Motiv der feindlichen Brüder
bestimmte Handlungsstrang ist In der FWU-Fassung auf ein Minimum
reduziert worden. Mit der Konzentration auf die Titelfigur liegt die
gekürzte Fassung nur oberflächlich gesehen näher an der
Brechtschen Kalendergeschichte. Wie gezeigt worden ist, ist schon die
Kalendergeschichte auf der Ebene des Erzählten genauso durch das
Handeln der Söhne gekennzeichnet wie durch das der Greisin.
Sinnvollerweise wird im Originalfilm die Erzählung von Berthes
neuen Wegen immer wieder gekreuzt durch die Darstellung der Beziehung
der feindlichen Brüder zueinander, die letztlich nichts anderes
als das Gewinnen und Verlieren im kapitalistischen Konkurrenzkampf
zeigt. So wird dem Zuschauer - in Handlung und Dialog umgesetzt - eine
Erklärung für die Entstehung des Normensystems angeboten, von
dem aus der Versuch der Befreiung aus
Unterdrückungsverhältnissen als "unwürdig" gebrandmarkt
wird.
Auch an einer anderen Stelle führt
die FWU-Kürzung dazu, dass die gesellschaftskritische Zielsetzung
des Original-Filme leicht abgebogen wird. Der Film Allios zeigt eine
Szene, in der Berthe den Flickschuster Alphonse besucht, von dem an
drei Stellen der Kalendergeschichte die Rede ist. Brechts "in der
ganzen Welt herumgekommener" sozialdemokratischer Flickschuster
erzählt in der Filmszene flunkernd aus seinem Leben (im
Hintergrund hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Viva
Socialista"): von Shanghai 1927, von Tschiangkaischek, Kuomintang und
erstickter Revolution, vom eigenen Vater als "altem Revoluzzer". Des
Flickschusters über 4 Minuten langer Monolog, der
gewissermaßen die Funktion eines Brechtschen Songs hat, und die
dadurch herbeigeführte Unterbrechung des Handlungsfortgangs, der
epische Charakter also, inhaltlich der vom Flickschuster vorgetragene
Preis des Autos und der Revolution, dann die von ihm aus einem alten
chinesischen Buch zitierte antiindividualistische Poetik - das alles
soll wohl eine Hommage à Brecht sein.
Wenn diese Szene in der FWU-Fassung bis
auf ihren dem Handlungsfortgang dienenden Beginn gestrichen ist, wenn
die Figur des Schusters sowohl als Symbolfigur als auch - in der
Handlung - als Gegenpol zum profitgierigen Unternehmer Gaston Bertini
fortfällt, bleibt nur noch der witzige, weltgewandte Lebemann
Alphonse übrig, der von der Suche der Greisin nach Alternativen
zur Kleinkariertheit und Hilflosigkeit oder berechnenden Kälte der
eigenen Söhne profitiert.
Während der Flickschuster im Film
das Gegengewicht zu den beiden im Kampf ums wirtschaftliche
Überleben (mit unterschiedlichem Erfolg) vereinten Brüdern
darstellt, ist die Kellnerin Rosalie, diese schöne junge Frau, die
allen Männern den Kopf verdreht, offensichtlich als Gegenfigur zur
Greisin selber konzipiert, genauer: zu ihren Rollen als Tochter, als
Frau und als Mutter in ihrem alten, ersten Leben. Damit geht der Film
über die Kalendergeschichte hinaus: Aus einem armen Ding, einem
möglicherweise schwachsinnigen Küchenmädchen, an dem
Frau B. "einen Narren gefressen" hat, wird eine sehr
selbstständige junge Frau, die ständig wechselnde
Männerbekanntschaften hat und dabei sehr wählerisch ist, die
sich zwar offensichtlich für die finanziellen Möglichkeiten
der Männer und z.B. ihre "schicken Autos" interessiert, aber
andererseits diese Gesichtspunkte sofort fallenlässt, wenn ein
armer Schlucker wie Albert Bertinis Sohn Pierre auftaucht, den sie
einfach mag. Jedenfalls verhält sie sich in jeder Situation im
Film, außer gegenüber der Greisin Berthe, nach
bürgerlichem Verhältnis "unwürdig", und so wird sie auch
schon vor ihrem ersten Auftreten von dem Wirt Ernest als "Hure"
bezeichnet. Und für Albert ist - hier in Parallelität zur
Kalendergeschichte - gerade die Beziehung seiner Mutter zu dieser
jungen Frau der eigentliche Skandal.
In dieser (vom FWU gestrichenen) Szene
wehrt sich Rosalie empört gegen Pierre, der mittlerweile meint,
aus ihrer Freundschaft Besitzansprüche ableiten zu können:
"Willst du etwa werden wie die anderen? ... Ich gehör dir nicht,
ich bin nicht dein Eigentum ... Bind mich nicht an!" Pierre, im
Besitzdenken der Väter-Generation gefangen, unterstellt ihr, sie
wolle besitzen, ihn und - "Skandal!" - auch seine Großmutter.
Darauf entgegnet sie: "Was denn für ein Skandal? Der einzige
Skandal ist, was ihr früher von Berthe verlangt habt".
Rosalie ist also die Person im Film, die
als einzige die Einsichtsfähigkeit aufbringt, die in der
Kalendergeschichte nur der Ich-Erzähler hat, und selbst er erst am
Schluss.
Die bisher charakterisierten
Änderungen bzw. Analogiebildungen in der Verfilmung Allios
gegenüber der Brechtschen Kalendergeschichte lassen sich im
wesentlich erklären
- als notwendige Adaptionen der
verbalsprachlich erzählten Geschichte an das Medium Film: für
die Geschichte im Buch mag es unerheblich sein, ob die Personen Briefe
schreiben oder miteinander face-to-face reden - der Film versucht, sie
mindestens miteinander telefonieren zu lassen, und bringt sie an der
entscheidenden Stelle in unmittelbaren Kontakt zueinander;
- als legitime Aktualisierungen für
das französische Filmpublikum der 60er Jahre (Zeit und Ort der
Handlung: Marseille ca. 1966): dass der Kinobesuch der alten Frau 1966
(und das in einem Film!) nicht mehr als aufregendes Fehlverhalten
gelten kann, ist selbstverständlich, und nicht eine Fahrt mit der
Bregg, sondern der Kauf eines Autos erscheint als skandalös;
- als Berücksichtigung der
Kinoerwartungen eines Massenpublikums: hierzu gehört v.a. der
Einbau einer Liebesgeschichte (Pierre – Rosalie);
- als nachträglicher Ausgleich oder
als Korrektur solcher Konzessionen an das Kinopublikum durch strenge
Funktionalisierung des neuen Handlungsstrangs;
- als Ausbau von Andeutungen in der
Kalendergeschichte, um die eigene politische Intention, die als
Konkretisierung der Brechtschen Intention verstanden wird, zu
verdeutlichen: der Flickschuster und seine Freunde als alte Revoluzzer.
Insgesamt ist die Verfilmung, soweit es
um die Ebene der erzählten Handlung geht, eine in sich plausible
aktualisierende Transformation, die sich bewusst in die
Brecht-Nachfolge stellt und den deutschen Autor dem französischen
Publikum nahebringen will.
3. René Allios Verfilmung: Das
Erzählen
Wie steht es nun mit der Transformation
der Ebene des Erzählens, der in der Kalendergeschichte eine
besondere Bedeutung zukommt, sofern sich hier das eigentliche Geschehen
abspielt: der dialektische Prozess der Aufhebung des
kleinbürgerlichen Normensystems? Fällt nicht, wenn das
Erzählen aus der Perspektive eines Ich-Erzählers nicht auf
den Film übertragen wird, das Eigentliche der Kalendergeschichte
für die Transformation aus?
Bei der genaueren Untersuchung der den
Film charakterisierenden Erzählverfahren sollte auf Analogien zu
folgenden fünf (oben erarbeiteten) Merkmalen der
Kalendergeschichte geachtet werden:
1. Die eigentliche Erzählbewegung in
der Kalendergeschichte findet im Kopf des Ich-Erzählers bzw. in
seinem Erzählen selber statt.
2. Auf der Ebene des Erzählten
durchläuft der Briefe schreibende Onkel eine zu der des
Ich-Erzählers gegenläufige Entwicklung.
3. Die Protagonistin hat mit dem
Einsetzen der Geschichte ihren Veränderungsprozess schon hinter
sich; die Kalendergeschichte beschäftigt sich mit den
verschiedenen Urteilen über das Ergebnis der erfolgten
Veränderung.
4. Die Protagonistin kommt daher nie
"unmittelbar" in den Blick des Erzählers, sondern nur in
mehrfacher Staffelung vermittelt.
5. Der Erzähler erzählt nicht
"unmittelbar" szenisch; im Berichten über die Berichte seiner
Gewährsmänner wendet er fast durchweg ein
zeitraffend-zusammenfassendes Erzählverfahren an. Dort, wo er
für kurze Zeit eine Szene entwirft, findet - zunächst
unmerklich - die Peripetie in seinem Denken statt.
Zunächst zu 2: Der Film baut
zwischen dem "neuen Leben" der Großmutter und dem
unverändert "alten Leben" und dem entsprechenden Normensystem des
jüngeren Sohnes eine klare Opposition auf. Das zeigt sich bis in
die Opposition der Handlungsorte; dort, wo sich Berthes neues Leben
abspielt, lässt sich der Sohn Albert nie blicken, und Berthe
besucht zwar einmal die Familie des Sohnes in der engen Wohnung, aber
nur, um sich gleich wieder abzuwenden. Die Entwicklung Alberts
verläuft im Groben analog zu der des Buchdrucker-Sohnes in der
Kalendergeschichte (s.o., zu Abweichungen s.u.).
Zu 5.: Selbstverständlich
erzählt der Film Allios die Geschichte der Großmutter
szenisch, wobei es sich teils um länger ausgeführte Szenen,
teils um eine Reihung kurzer Episoden handelt. Die episodischen
Sequenzen, das mit ihnen verbundene stärker zeitraffende
Erzählen, finden sich im zweiten Abschnitt des Films, der die
Entwicklung der Greisin vom alten zum neuen Leben zeigt (s.u.).
Eine erzählerische Besonderheit
leistet sich der Film an der wichtigen Stelle, an der in der
Kalendergeschichte "die Briefe meines Onkels ganz hysterisch" werden
und "nur von der unwürdigen Aufführung unserer lieben Mutter"
handeln. Auch im Film schreibt Albert einen Brief an den Bruder. Man
hört, wie er den Brief laut vor sich hin liest; gleichzeitig
zeigen ihn sechs einzelne Einstellungen bei verschiedenen Arbeiten, der
verlesene Brieftext beschäftigt sich mit seiner
geschäftlichen Kapitulation vor dem Bruder. Erst zu den zwei
folgenden Einstellungen (Albert mit Frau / allein im Café)
hört man den Brieftext zum Thema "Großmutter". In die Lesung
ist dann eine kurze, aus zwei Einstellungen bestehende Szene (mit
kurzem Dialog) eingelagert, die eine glückliche Berthe mit Rosalie
und Alphonse in den Ferien (Hafen von Toulon) zeigt; Brieftext: "Sie
ist mit ihren Freunden verreist. Kein Brief, keine Karte ... Wenn ich
in den Zeitungen von all diesen Unfällen lese, habe ich Angst,
dass sie eines Tages für ihr unwürdiges Benehmen bestraft
werden könnte. Ich mache mir Sorgen."
Berthes Entwicklung ist hier auf dem
Höhepunkt angelangt, die zwei Einstellungen im Hafen von Toulon -
Berthe eingerahmt von den beiden neuen Freunden - beweisen es. In
Opposition dazu ist Albert auf den tiefsten Punkt gesunken, bedingt
durch das geschäftliche Debakel, nicht durch den Ärger
über seine Mutter. Im Unterschied zur Kalendergeschichte
verhält er sich nicht (nicht mehr) "hysterisch", sondern besorgt.
Die Härte des im Adjektiv "unwürdig" liegenden Urteils
erscheint gemildert. Das ist die Konsequenz daraus; dass Allio es
unternommen hat, Alberts Denken und Fühlen aus seiner
wirtschaftlichen Situation verständlich zu machen.
Wo Brecht mit dem einmaligen szenischen
(statt raffenden) Erzählen die Peripetie einleitet, signalisiert
Allio mit dem einmaligen 'raffenden Erzählen den Endpunkt einer
Entwicklung, auf den die unerwartete "Katastrophe" folgt: an die
Toulon-Ferien schließen sich der Abschied Berthes von Alphonse,
dem Flickschuster (er eröffnet mit Berthes Geld in Toulon einen
Schuhladen), und ihr plötzlicher Tod an.
Das durch Reihen von Fotos zu Beginn und
am Schluss des Films zeitraffend vorgehende filmische Erzählen
stellt sich bei näherer Betrachtung als Teil der
"Erzähler-Ersatz-Strategie“ heraus (s.u.).
Zu 4.: Die "körperliche" Distanz des
Erzählers und des Lesers zur Hauptfigur der Kalendergeschichte
führt nach Ablauf des Erzähl-, Lese- und Erkenntnis-Prozesses
zu "geistiger" Nähe. Der Film muss, wenn er hier analog verfahren
will, der Gefahr widerstehen, dass sich durch die schauspielerische
Leistung der Berthe-Darstellerin beim Zuschauer von Anfang an
unkritische Sympathie und Identifikation einstellen und die
Auseinandersetzung mit dem Skandalösen in Berthes neuem Leben
ausbleibt. Das gelingt Allio und der Darstellerin der Berthe,
Thérèse Sylvie, dadurch, dass Berthes Mimik zu Beginn des
Films sehr starr ist, keine Gefühlsregung außer einer
unnahbaren Trauer verrät; ihre Arme und Hände liegen
häufig eng am Körper an, zeigen gewissermaßen nach
innen. Auch die schwarze Kleidung hält die Zuschauer auf Distanz.
Mehrfach stehen die Personen, die mit Berthe im Bild sind, zwischen ihr
und dem Zuschauer. Sie geht nie geradewegs auf die Zuschauer zu, bleibt
im Halbtotal- oder Halbnah-Abstand, auch die Kamera (und mit ihr der
Zuschauer) geht nicht auf sie zu.
Das ändert sich erst mit Berthes
Besuchen im Stadtzentrum: die neuen Requisiten Hut und Handtasche, der
plötzlich offene, neugierig sachbezogenen Blick, das leise, z.T.
selbstironische Lächeln und die größere Nähe der
Kamera und damit des Zuschauers, z.T. aus der Übersicht heraus,
zeigen die Änderung an.
Trotzdem rückt ihr die Kamera auch
im "zweiten Leben" nicht auf den Leib und sie behält ihre
"ichbezogene" Gestik bei, vor allem aber: Berthe taut im ganzen Film
nur in zwei Szenen soweit auf, dass sie sich in einem Dialog wirklich
engagiert (beim Autokauf und im Restaurant vor dem Autoausflug). Im
allgemeinen schweigt sie oder macht knappe Bemerkungen. Das fällt
umso mehr auf, als ihre Gegenfigur, ihr Sohn Albert, ständig
heftig gestikulierend redet. So kann der Zuschauer genügend
Abstand halten, um der Greisin - vor dem Hintergrund des Mitleids mit
dem Sohn Albert - kritische Empathie statt vorschnell festgelegte
Identifikation entgegenbringen zu können.
Zu 3: Es ist bereits deutlich geworden,
dass die Wandlung der Greisin zu neuem Leben nicht, wie in der
Kalendergeschichte vor Beginn, sondern innerhalb der eigentlichen
Handlung liegt. Die Wandlung setzt nach dem Ende des ersten
Filmabschnitts (nach über 21 Min., FWU-Fassung: nach ca. 12 Min.)
ein und zieht sich dann bis in den vierten Abschnitt
(Autokauf/Autofahrt), ja, bis in den Schlussabschnitt (Ferien) hin.
Hier haben wir es also mit einer klar
erkennbaren Änderung im Erzählverfahren des Films
gegenüber dem der Kalendergeschichte zu tun: Die eigentliche
Entwicklung findet nicht auf der Ebene des Erzählens statt
(entsprechend dem Diegese-Charakter der filmischen Fiktion geht das
Zeigen im Gezeigten unter), sondern auf der der erzählten
Handlung. Der Spielfilm lässt sich nicht die Möglichkeit
entgehen, das Publikum durch das Prinzip der Steigerung zu fesseln.
Es wäre allerdings falsch, von einer
Psychologisierung der Gestalt der Großmutter zu sprechen. Da der
reflektierende, rechtfertigende oder Gefühle ausdrückende
Dialog fehlt, bleibt der Zuschauer vor dem Rätsel eines Gesichts
stehen, der Film bietet so wenig eine Sicht ins Innere der Hauptfigur
wie die Kalendergeschichte. Und auch im Film ist die Wandlung
plötzlich da, mit dem gleichen "Aber" wie bei Brecht (im
Familiengespräch vor der Beerdigung: "Hab' schönen Dank
Gaston ... Aber ich werde nicht zu euch ziehen").
BERTHES ENTWICKLUNG
Abschnitt I:
Familienrat vor der Beerdigung des Großvaters (Kameraschwenk):
Berthe: "Hab schönen Dank, Gaston, und du auch, meine Rose. Aber
ich werde nicht zu euch ziehen. Es ist mir lieber, ich lebe allein."
Sohn Robert: "Wovon willst du leben, meine kleine Berthe?" Berthe:
"Wenn mir jeder von euch so ein klein bisschen was gibt ...
Am Abend vorher hat Berthe noch einmal,
ein letztes Mal beim Abendessen in der Küche ihre alte Rolle als
Hausfrau und Mutter, als Dienerin der Männer, gespielt.
Berthes Entwicklung vollzieht sich nun in
kleinen Schritten:
Abschnitt II:
Kurze Episoden innerhalb des eigenen Vorortes (Zurückweisung einer
kränklichen Altersgenossin/Faszination durch vorbeilaufende
Jugendliche, Interesse für einen besseren Wein als
bisher/Interesse fürs Kino, Aufnahme des Kontakts zu Rosalie).
Darauf zwei Besuche in der City von Marseille:
Erster Besuch: Im Menschenstrom; alte Interessen: für Kleider,
für Haushaltswaren im großen Kaufhaus.
Zweiter Besuch: Neue Interessen: Parfum, Rolltreppenfahren,
Perücken, schnelle Autos, schöne Bücher; dann dreifacher
Genuss: Park, Eis mit Schlagsahne, Droschkenfahrt.
Zwischen erstem und zweitem Stadtbummel:
Besuch beim Sohn, mit dem Sieg der eigenen Interessen über die
familiäre Bindung ("Ein bisschen eng habt ihrs ja wirklich!").
Abschnitt III:
Nächste Etappe: die neuen Freunde: zuerst Besuch Rosalies, dann
mit Rosalie Besuch bei Alphonse.
Abschnitt IV:
Zweimal Verkauf/Neukauf/Gebrauch:
- Verkauf des Hausrats an einen Altwarenhändler
- Kauf neuer Kleidung für Rosalie und Alphonse; mit beiden: Besuch
eines Pferderennens (z.T. episodisch)
- Verkauf des Hauses / Feiern mit Freunden
- Kauf eines Autos zusammen mit Rosalie; Ausfahrt mit dem neuen Auto
zusammen mit Rosalie und Pierre, dem Enkel.
Abschnitt V:
Drei Höhepunkte: Zurückweisung des älteren Sohnes Gaston
- einsamer nächtlicher Spaziergang am Hafen - Abfahrt in die
Ferien.
Immer entschiedenere Abwendung von der
Familie und der Vergangenheit, ohne je den Boden unter den
Füßen zu verlieren - ständige Erweiterung des Horizonts
und Erreichen einer höheren Stufe der Unabhängigkeit: das
sind die erkennbaren Tendenzen der spiralförmigen Entwicklung und
Steigerung. Das Prozesshafte, Konstruierte dieses Vorgangs kann dem
Zuschauer deutlich werden, da eigentliche Spannung ja nicht aufkommt
und er in stummen. musikuntermalten Kurzszenen ruhiger, entspannter
Beobachter bleiben kann. Damit versucht Allio auf der Ebene der
erzählten Handlung eine Analogie zum Brechtschen
Erkenntnisprozess, der dort auf der Ebene des Erzählens
verläuft, herzustellen.
Den Beginn dieses Unternehmens
signalisiert er, indem er zwischen die Beerdigungsszenen und die ersten
neuen Schritte in L'Estaque drei Großaufnahmen von Berthe
einschiebt: Während sie, noch einsam, (entsprechend der
Kalendergeschichte) stumm ihr "keinesfalls üppiges" Essen zu sich
nimmt ("ihren geliebten Zwieback" und "einen billigen Rotwein"), ist
sie zunächst von hinten zu sehen, sie blickt also "zurück";
dann blickt sie wieder einige Sekunden zur Seite, schließlich
für längere Zeit "nach vorn" (in die Zukunft).
Zu 1: Allio hat auch eine sinnvolle
Analogie zu Brechts Ich-Erzähler gefunden: Der Film erzählt
zunächst die Vorgeschichte (zeitraffend wie die
Kalendergeschichte), und zwar durch eine Reihung von 12 Fotos, 8
Kameraeinstellungen und nochmal 6 Fotos, die in die Gegenwart
einmünden, und zwar so, dass die erste Einstellung der laufenden
Handlung das vorletzte Foto "zitiert" und "zum Laufen bringt". Dazu
singt ein (unsichtbarer) Sänger, von einer Band begleitet, ein
Chanson, das Jean Ferrat für den Film geschrieben hat und das das
auf die Hausfrauen- und Mutterrolle fixierte Leben der Protagonistin
leicht melancholisch kommentiert ("Man heiratet früh mit 20 ...").
In den letzten Szenen des Films stellt sich dann heraus, dass der
Sänger niemand anderes ist als der Enkel Pierre, der seit langem
mit seiner Band Chansons geübt und gespielt hat. Während in
der letzten Szene die Band ohne Sänger das Chanson "Man heiratet
früh mit 20" spielt und damit die Vorgeschichte der Greisin, ihr
altes, erstes Leben der "Knechtschaft", in die Gegenwart holt, schaut
sich Pierre die Fotos aus ihrem zweiten Leben, dem der "Freiheit" im
Urlaub mit Rosalie und Alphonse, an. Dazu zitiert ein Off-Sprecher
einen der letzten Kurzabsätze der Kalendergeschichte ("Genau
betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben ...") und den
allerletzten Satz, in dem von den "langen Jahren der Knechtschaft" und
den "kurzen Jahren der Freiheit" die Rede ist. Das soll wohl
heißen: Dies geht dem Enkel Pierre durch den Kopf, die Gedanken
des Brechtschen Ich-Erzählers sind seine Gedanken (das
hörbare Brecht-Zitat zum Schluss korrespondiert mit einem
sichtbaren Brecht-Zitat vor dem Beginn des Films, der Geschichte von
Herrn K., der sich angeblich nicht verändert hat und deshalb
"erbleicht"). Pierre ist zwar nicht der Erzähler des Films, aber
doch im Film Erinnerer und Kommentator von Berthes zweitem Leben.
Offensichtlich ist es notwendig, sich
auch Pierres Entwicklung näher anzuschauen: Zunächst ist der
Sohn des Transportunternehmers Albert Bertini zu einem Doppelleben, zur
unaushaltbaren Gleichzeitigkeit eines "alten" und eines "neuen Lebens"
gezwungen: er muss sich als Arbeiter seines Vaters abrackern und
unselbstständig Geld verdienen, abends aber übt und spielt er
mit seiner Band für wenig Geld und träumt von einer
Künstler-Karriere in Paris. Für seinen Vater ist er die
Kontaktperson zur Großmutter - sie mag den Enkel offensichtlich
und der sie auch. Er bricht mit seinem Vater, der ihm die Gitarre
zerschlagen hat, aber die Großmutter gestattet ihm den
völligen Bruch mit der Vergangenheit nicht: Als der Vater verletzt
ist, erwartet sie von ihm, dass er das Geschäft weiterführt;
gleichzeitig mit seiner künstlerischen Tätigkeit soll er
schaffen, was Berthe nicht mehr möglich ist: die Synthese zwischen
"Freiheit" und "Knechtschaft" - indem er beides gleichzeitig
"auskostet". Jedenfalls hat er Schwierigkeiten mit seinem Leben, auch
mit der Liebe: Er hat sich in Rosalie verliebt, unabhängig von
Berthes Zuneigung zu der jungen Frau - versteht aber, anders als die
beiden Frauen, unter "Liebe" und "Freundschaft" immer noch
"Besitzenwollen". Das alles beweist, dass er zwar auf dem richtigen Weg
ist, aber noch nicht die richtige Lösung für die Balance der
zwei Leben gefunden hat. Worauf es ankommt, das allerdings hat er von
der Großmutter gelernt: Auf dem Friedhof-Spaziergang mit seinem
Onkel Gaston hält er diesem entgegen: Die Großmutter "ist
ganz und gar nicht verrückt - sie hat sich bloß
geändert".
Der Ich-Erzähler am Schluss der
Kalendergeschichte hat es, verglichen mit Pierre, leicht: er existiert
nur auf der Ebene des Erzählens. Der "Erzähler-Ersatz" Pierre
dagegen soll sich in seinem eigenen Leben auf den Weg machen
zu dem Ziel, an dem der Brechtsche Ich-Erzähler in seiner Erkenntnis
schon angekommen ist. Mit den Mitteln des Films strebt
Allio etwas Ähnliches an wie Brecht mit den Möglichkeiten der
Kalendergeschichte: durch die Identifikation mit dem Enkel der
"unwürdigen Greisin" werden der Leser und der Zuschauer in ihr
eigenes Leben entlassen mit der Möglichkeit, sich zu ändern
und darin einen Schritt weiterzugehen als der eine oder der andere
Enkel.
Veröffentlicht in:
J. Paech (Hrsg.), Methodenprobleme der Analyse verfilmter
Literatur. Papiere des Münsteraner Arbeitskreises für
Semiotik / papmaks 17. Münster (MAkS Publikationen) 1984. S. 245 -
269.
J. Paech (Hrsg.), Methodenprobleme
der Analyse verfilmter Literatur. 2., überarbeitete Auflage.
Münster (Nodus Publikationen) 1988. S. 213 - 224.
© Dieter Schrey 2006
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